Kommentar: Zeit für mehr Zeitenwende
Die Bundeswehr ist kaum einsatzfähig, eine Zeitenwende ist mitnichten eingeläutet. So lässt sich die Kritik der Wehrbeauftragten Eva Högl zusammenfassen. Deutschland ist verteidigungs- und sicherheitspolitisch noch auf der Suche nach einer neuen Rolle.
Wochenkommentar von Gordon Repinski, stellv. Chefredakteur von "The Pioneer"
Das Zeugnis der Wehrbeauftragten war verheerend. Der Truppe fehle es an allem, sagte Eva Högl in dieser Woche, das Geld des Sondervermögens sei bei der Bundeswehr noch nicht angekommen. Sie sprach damit aus, was man irgendwie schon ahnen konnte. Die Zeitenwende ist seit über einem Jahr in Deutschland zwar theoretische Realität, aber irgendwie hat sie den Sprung in die Praxis noch nicht geschafft. Noch immer fehlt es der Bundeswehr an Munition, Schutzausrüstung, an Luftabwehr und Transportfähigkeiten, an funktionierenden Panzern und einsatzfähigen Schiffen. Während sich in dieser Woche die russischen Kriegsverbrechen beim Angriff auf Mariupol zum ersten Mal jährten, kämpft Deutschland in der Sicherheitspolitik noch immer und vor allem mit sich selbst. Wäre der Begriff nicht schon einmal verwendet worden, könnte man sagen: es wäre mal wieder Zeit für eine Zeitenwende.
Die Welt um uns herum ändert sich
Dabei ist es noch nicht einmal so, dass gar nichts passiert wäre: Deutschland liefert mehr militärisches Gerät in die Ukraine als jedes andere Land in Europa. Bald rollen die ersten Kampfpanzer des Typs Leopard 2 an die Front. All das wäre vor einem Jahr noch nicht vorstellbar gewesen. Aber Zeitenwende, das ist eben auch mehr als die Unterstützung für die Ukraine. Es ist das grundsätzliche Verständnis dessen, was mit dem russischen Angriff passiert ist - und was die Folgen daraus sind.
Das Verständnis, dass sich die Welt um uns herum ändert. Sie ändert sich in einer Weise, in der wir es nicht für möglich gehalten haben. Plötzlich gibt es mit Russland im Osten einen Aggressor, der das Völkerrecht infrage stellt und unsere Resilienz herausfordert. Und dabei haben wir noch nicht über China gesprochen und die imperialistischen Fantasien des Regimes von Xi Jinping. Wir haben noch nicht gesprochen über die Vereinigten Staaten, die bald in den Wahlkampf einsteigen und im nächsten Jahr einen neuen Präsidenten wählen. Wer sagt eigentlich, dass es noch einmal Joe Biden wird, der mit seiner transatlantischen und europafreundlichen Ausrichtung ein historisches Geschenk in diesen Jahren ist.
Die geopolitische Wahrheit lautet: Europa könnte in kurzer Zeit ganz schön allein dastehen: mit drei unberechenbaren Weltmächten und der Illusion einer multipolaren Welt. Es kann viel schneller ernst um uns herum werden, als wir es uns denken - noch viel ernster, als es jetzt schon ist. Denn was ist eigentlich, wenn Putin diesen Krieg doch nicht verliert? Wenn der Westen nicht stark genug sein wird, dieses Unrecht mithilfe von Waffenlieferungen zurückzuweisen?
Die Bundeswehr endlich abwehrfähig machen
Es wird eine Welt, in der Deutschland wehrhaft und verteidigungsfähig sein muss. Es ist eine gruselige Vorstellung, die wir alle nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen Schrecken am liebsten nie wieder haben wollten. Aber wenn andere ihre Panzer benutzen, dann sollten wir auch welche besitzen, mit denen man sich wenigstens wehren könnte. Und das ist keinesfalls eine Kriegslogik. Es ist die Logik vom NATO-Doppelbeschluss der Achtzigerjahre, bei dem Aufrüstung am Ende dazu führte, dass die Entspannungspolitik der Neunzigerjahre überhaupt geschehen konnte. Dass der Kalte Krieg endete, der Frieden eine Chance hatte.
Die Erkenntnis für Deutschland muss sein: Eine echte Zeitenwende bedeutet, die Bundeswehr wirklich abwehrfähig zu machen, zu akzeptieren, dass dies sehr viel Geld kostet, wahrscheinlich viel mehr als die 100 Milliarden des Sondervermögens. Es bedeutet, bürokratische Prozesse zu vereinfachen und im Interesse der Sicherheit die Bundeswehr endlich auf den Stand zu bringen, auf dem sie schon lange sein muss.
All das muss geschehen, damit Angriffskriege mit Kriegsverbrechen wie in Butscha, Bachmut oder Mariupol nicht wieder zur Normalität werden - sondern Völkerrecht und internationale Werteordnung wieder eine echte Chance haben.
Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.