Zahra Nedjabat: "Vielfalt ist kein Trend, sondern unsere Zukunft"
Mit dem Diversity Day am 23. Mai möchte der Verein "Charta der Vielfalt" mehr Aufmerksamkeit für das Thema Diversität am Arbeitsplatz schaffen. Welche Chancen bietet Diversität und wo gibt es Grenzen? Dazu ein Interview mit Zahra Nedjabat.
Nedjabat leitet seit 2019 den Bereich International Relations und Diversity bei der Deutschen Welle. Obwohl in dem Medien-Unternehmen schon Menschen aus mehr als 60 Nationen arbeiten, sieht Nedjabat es als ihre Aufgabe an, die Diversität in ihrem Betrieb zu fördern. Sie ist außerdem eine gefragte Rednerin zum Thema Diversity.
Frau Nedjabat, was genau ist Diversität?
Zahra Nedjabat: Der Begriff kommt ursprünglich aus dem Lateinischen und bedeutet Vielfalt oder auch Vielfältigkeit. Er kann sich auf die Natur, Individuen aber auch Gruppen von Menschen beziehen. Diese Heterogenität bringt einen Reichtum an Merkmalen mit sich. Bei Menschen zum Beispiel verschiedene Perspektiven, verschiedene Hintergründe. In dieser Unterschiedlichkeit und Mannigfaltigkeit steckt eine Menge Potenzial, auf Dinge zu schauen, Lösungen für komplexe Probleme zu finden und als Gruppe und Gesellschaft zu wachsen. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) unterscheidet sechs Merkmale: Alter, Behinderung, ethische Herkunft, Geschlecht, Religion/Weltanschauung und sexuelle Identität.
Darüber hinaus hat der Verein Charta der Vielfalt beispielsweise auch soziale Herkunft als Dimension in seinen Kanon aufgenommen. Es gibt aber auch viele unsichtbare Faktoren, die uns zu dem machen, was wir sind und die sich sicherlich immer weiter entwickeln werden. So spielt in der Berufswelt in Deutschland zum Beispiel auch Ost-/Westdeutschland immer noch eine Rolle, vor allem, wenn man sich die Führungs-Etagen mancher Unternehmen anschaut. Man muss für sich schauen: Wo gibt es Handlungsbedarf, wo sind Unterschiede bisher nicht erkannt oder anerkannt worden? Dort sollte man dann - gerade in herausfordernden Zeiten - die Energien bündeln.
Welche Chancen bringt Diversität Ihrer Meinung nach mit sich?
Nedjabat: Diversität ist die Grundvoraussetzung für das Lernen. Denn Lernprozesse entstehen, wenn ich etwas noch nicht kenne. Diese Perspektiven und die Meinungsvielfalt bringen uns dazu, in den Dialog zu gehen und auch die eigenen Positionen kritisch zu hinterfragen. Vor allem jetzt, da wir in einer immer komplexeren Welt leben, mit großen technologischen Fragestellungen, kann Diversität hilfreich sein, um überhaupt auf Lösungen und Innovationswege zu kommen. Das ist auch in Studien bewiesen worden, dass diversere Teams zu besseren Ergebnissen kommen. Eine Gruppe, in der nur homogene Perspektiven am Tisch sitzen, hat die Tendenz, sich gegenseitig zu bestätigen. So kommen unterm Strich keine besseren Entscheidungen, geschweige denn neue Ideen heraus. Dort liegt also ein Potenzial von Diversität für die Arbeitswelt - ganz abgesehen davon, dass es Spaß macht, Dinge zu erforschen, die anders sind als das, was wir kennen und gewohnt sind. Das bringt auch unser Hirn, unsere Muskulatur und Neuronen in Schwingungen und in Bewegung - das fördert also auch unser ganz persönliches Wachstum.
Wann kann Diversität zu Problemen führen?
Nedjabat: Wenn man unterschiedliche Perspektiven berücksichtigt, Partizipation ermöglicht, entstehen logischerweise auch Reibung, Meinungsverschiedenheiten und eine Auseinandersetzung mit einer anderen Sichtweise. Es bedarf einer gesunden Streitkultur, einer Grundhaltung, die uns verbindet, damit aus Unterschieden kein Streit und keine Konflikte werden. Wir müssen uns bewusst machen, dass es kein Selbstläufer ist, Teams schön divers zu besetzen - und dann wird alles besser. Dann sind wir erst recht gefragt, unsere eigene Kommunikation und unser Miteinander konstruktiv zu gestalten. Dann wird auch ein Mehrwert daraus. Wirklich jede Biografie ist anders, nicht nur auf nationaler und sozialer Ebene. Auch innerhalb einer Gruppe, in der etwa alle "deutsch" sind - wie auch immer wir heutzutage "deutsch sein" definieren würden - haben vielleicht alle einen sehr unterschiedlichen Freiheits- oder Gerechtigkeitsbegriff. Das wird natürlich noch komplexer, wenn wir diese Gruppe um Perspektiven erweitern, die zum Beispiel ganz unterschiedlichen Generationen, Kulturen, soziale Hintergründe und Persönlichkeitsmerkmale inkludieren.
Wie gelingt es, Konfliktpotenziale aus dem Weg zu räumen?
Nedjabat: Ich glaube, es ist erstmal wichtig, Begriffe und Grundwerte zu klären und sich gegenseitig abzuholen, damit in einer Organisation am Ende des Tages alle in die gleiche Richtung schauen und sich bei dem Ziel einig sind. Der Weg dahin kann unterschiedliche aussehen, das braucht viel Zeit und Kommunikation. Wichtig ist außerdem eine gewaltfreie Kommunikation, eine gesunde Streitkultur und ein Grundvertrauen zwischen den Menschen aufzubauen, damit man mit Kritik überhaupt umgehen kann und das nicht direkt als ein persönlicher Angriff oder eine Diskriminierung bewertet wird. Es geht eben nicht um einen persönlichen Angriff, sondern um die Sache, über die wir hier gerade streiten. Nicht die Person wird hinterfragt, sondern vielleicht ihre Meinung oder ihre Handlung. Außerdem sollten wir mehr miteinander und weniger übereinander reden.
Wo sehen Sie denn Verbesserungspotenzial?
Nedjabat: Die deutsche Gesellschaft ist sehr leistungs- und ergebnisorientiert. In diesem Optimierungswahn ist es wichtig, auch mal einen Gang runterzuschalten, sich die eigenen schnellen Bewertungen, Urteile und vor allem die unbewussten Vorurteile anzuschauen. In Deutschland sind wir in vielen Bereichen auf Schnelligkeit und Effizienz trainiert. Gerade in Zeiten des steigenden Drucks ist es extrem wichtig, sich für die Themen Unternehmenskultur, Diversität und Inklusion Räume zu schaffen, wo wir entschleunigen und uns wirklich darauf einlassen können. Also sich wirklich mal auf den Stuhl der anderen Person und des Gegenübers zu setzen, und auch unsere emotionale Intelligenz aus der Tasche zu packen. Schon vom Schulwesen her sind wir sehr auf Konkurrenz aus: Wer ist der Beste? Wer sticht mit Leistung heraus? Aber es ist eben auch wichtig, das "Wir" in die Mitte zu stellen und das Ego zurückzunehmen. Ich glaube, das tut uns gut. Ich würde sagen, da gibt es in Deutschland und in der Welt viel Verbesserungspotenzial.
Ab wann kann ein Unternehmen sich als divers bezeichnen?
Nedjabat: Ich würde sagen, das ist eine lebenslange Reise. Die eigenen Vorurteile zu hinterfragen, das ist ein Dauer-Training. Aber wenn ein Großteil der Belegschaft die Frage positiv beantworten kann, ob sie sich in ihrem Unternehmen wertgeschätzt, gefördert fühlen und Zugänge zu Ressourcen und Positionen wahrnehmen, dann hat man schon einen großen Schritt in Richtung eines inklusiven Unternehmens geschafft. Divers zu sein ist noch nicht das Ziel. Die Diversität haben wir in der Kantine eines Unternehmens auf den allerersten Blick vielleicht ganz schnell erreicht. Die Frage ist dann: Wie sieht es über die Hierarchiestufen aus? Wie durchlässig sind unsere Systeme? Wenn man als Arbeitnehmer das Gefühl hat, mehr auf offene Türen als auf starre Mauern zu stoßen und sich angstfrei äußern kann im Unternehmen - ich glaube, dann ist man auf einem guten Weg.
Gefühlt stehen einige der sechs im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz festgehaltenen Merkmale mehr im Fokus der Öffentlichkeit als andere. Warum wird beispielsweise verhältnismäßig wenig über Alters-Diskriminierung gesprochen?
Nedjabat: Wer tatsächlich gehört wird in Debatten, hängt auch ein bisschen davon ab, wer sich hörbar und sichtbar machen kann und Zugang zu Medien hat - egal ob soziale Medien oder herkömmliche. Da ist ein Teil der älteren Generation ausgeschlossen, was ich auch in meinem eigenen Umfeld sehe. Dass einzelne Dimensionen mal mehr oder weniger stattfinden, liegt sicher auch am tagesaktuellen Geschehen. So hat der Vorfall um George Floyd etwas, das seit Jahrhunderten passiert, plötzlich auf die Nummer 1 der Agenda der Berichterstattung gebracht. Es ist eigentlich schade, dass es oftmals diese Negativ-Nachrichten sind, die unsere Aufmerksamkeit bekommen - anstatt sich alle Menschenrechte gleichwertig und konstruktiv anzuschauen. Es täte uns gut, die Alters-Dimension ernst zu nehmen, schließlich ist es die einzige, die uns alle irgendwann betreffen wird, wenn wir das Glück haben, älter zu werden.
Im Moment ist der Fachkräftemangel eines der großen Themen in der Arbeitswelt. Kann Diversität Abhilfe schaffen?
Nedjabat: Ich würde sagen, der Fachkräftemangel zwingt uns zu Diversität und Inklusion. Die Bundesregierung will jetzt beispielsweise Pflegefachkräfte aus Brasilien anwerben. Wenn wir nur Menschen in Positionen setzen wollen, die so aussehen wie wir, dann wird es wirklich sehr eng. Dann hat unser Land wirtschaftlich und sozial keine Zukunft. Der Fachkräftemangel zwingt uns, unseren Blick zu öffnen, Quereinsteiger*innen in Systeme reinzulassen, Bürokratie abzubauen und andere Parameter für Qualifikationen zuzulassen als das jeweilige deutsche Zertifikat für diesen Berufsweg. Das wird sich automatisch anbahnen, um zukunftsfähig zu bleiben. Unsere Systeme müssen sich öffnen, flexibilisieren und smarter werden.
Kann wirklich jede Firma von Diversität profitieren - oder gibt es auch Grenzen? Also was ist vielleicht mit dem handwerklichen Betrieb auf dem Lande, in dem traditionell eher Männer arbeiten und der keine Möglichkeit hat, alte Menschen oder Menschen mit einer körperlichen Behinderung einzustellen?
Nedjabat: Ich glaube, das kommt wirklich auf das Unternehmen an und wie es Diversität für sich definiert. Allein die Mann-Frau-Frage im Handwerker- oder Techniksektor. Das beginnt ja schon in der Schule, wie Mädchen empowered werden, in technische Berufe einzusteigen und man ihnen nicht von Anfang an sagt: "Das ist Jungen-Sache, das kannst du nicht." Ich glaube schon, dass Frauen in Technik-Berufen ein großes Thema bei uns in Deutschland ist. Aber wenn ein kleiner Handwerksbetrieb seinen Weg in die digitale Zukunft gestalten will, muss man sich wirklich anschauen, was die entscheidenden Kompetenzen und Qualifikationen sind, die jemand für ein bestimmtes Berufsfeld mitbringen muss. Und dann sollte es egal sein, ob die Person ein Mann oder eine Frau, jung oder alt, homo oder hetero ist. Man nennt das auch das Thomas-Prinzip, dass "der Thomas" eher "den Thomas" einstellt und nicht die Khadija - weil sie anders aussieht. Ich glaube schon, dass sich im Recruiting noch viele Wege und Türen öffnen können, wenn man auch mal andere Menschen zu Vorstellungsgesprächen einlädt als die "üblichen Verdächtigen", die der eigenen Familientradition entsprechen.
Aber klar: Es ist dann ein Weg des Onboardings, es muss gut organisiert sein, zum Beispiel in Hinblick auf die Sprachkompetenzen und die Begriffsklärung, damit man auf einen Nenner kommt. Ich denke, dass es im Grunde in Zukunft jedes Unternehmen betreffen wird und es auch schon jetzt tut.
Warum stößt Diversität manchmal auf so große Ablehnung?
Nedjabat: Es ist ganz wichtig zu erkennen, dass die Welt nach der Pandemie in einem gewissen Erschöpfungszustand ist. Jetzt müssen wir uns auch noch mit den sozialen und wirtschaftlichen Folgen dieses völlig unnötigen russischen Angriffs auf die Ukraine auseinandersetzen. Dann können Change-Themen wie Inklusion und Diversität Ängste und Überforderung auslösen. Wir müssen dafür werben, diese Angst abzubauen, vor dem was anders und neu ist oder fremd erscheint und mehr das Potenzial sehen. Denn es ist sehr einfach, jetzt in eine Negativ- und Angsthaltung zu verfallen im Angesicht dieses Stress-Tests, dem wir als Gesellschaft gerade ausgeliefert sind. Bei diesem Thema muss ein Miteinander und nicht das Gegeneinander überwiegen. Vielfalt ist kein Trend, sondern unsere Zukunft. Sie ist sowieso da, die Frage ist, ob wir etwas Gutes daraus machen.
Das Interview führte Anina Pommerenke, NDR Info.