Unfälle an Bahnübergängen: Strecke in Niedersachsen im Fokus
Bei Unfällen an Bahnübergängen sind 2022 so viele Menschen gestorben wie seit 2010 nicht mehr - obwohl die Zahl der Übergänge sinkt. Die unfallträchtigste Strecke im Norden liegt in Niedersachsen.
Er hat damals viel Glück im Unglück: 2011 hat der junge Landwirt Arne Frahm einen schweren Unfall an einem Bahnübergang im schleswig-holsteinischen Aukrug. Nur ein paar Hundert Meter ist der Bahnübergang vom Hof entfernt. Eigentlich fährt er da täglich ein- bis zweimal drüber, erzählt er. Damals sitzt sein Vater auf dem Beifahrersitz. Die beiden wollen gemeinsam zu einem Termin.
Die beiden sind in einer regen Unterhaltung, dann passiert der Unfall. Wieso sie mit der Regionalbahn kollidierten, weiß er bis heute nicht. "Das Nächste was ich weiß ist, dass mein Auto da unten irgendwo lag und ich dann von einer Polizistin eingesammelt worden bin, weil ich hier ein bisschen kopflos durch die Gegend gegangen bin", erzählt Frahm heute, mehr als zehn Jahre nach dem Unfall. Trotz Vollbremsung prallt der Zug mit dem Auto zusammen.
Die zwei Männer sind schwer verletzt: Der Vater von Arne Frahm hat gebrochene Rippen. Er selbst hat eine Hirnblutung und bricht sich einen Lendenwirbelfortsatz. Er wird einige Tage ins künstliche Koma gelegt. Wieso er den Zug übersehen hat, kann er sich bis heute nicht erklären.
Tod am Bahnübergang: Höchster Stand seit 2010
So wie Arne Frahm erging es im vergangenen Jahr 35 Menschen in Norddeutschland: Sie wurden bei einem Unfall an einem Bahnübergang schwer oder leicht verletzt. Insgesamt 28 Unfälle dieser Art gab es im Jahr 2022 insgesamt, sechs Menschen verloren dabei ihr Leben. In ganz Deutschland waren es im vergangenen Jahr 42 Menschen, die durch einen Unfall an einem Bahnübergang gestorben sind. Damit ist die Zahl der Unfalltoten nach NDR-Berechnungen an Bahnübergängen im vergangenen Jahr auf den höchsten Stand seit 2010 geklettert.
Blickt man auf die Tabelle zeigt sich: Von allen norddeutschen Bundesländern sind im vergangenen Jahr die meisten Unfälle an Bahnübergängen an Bahnstrecken in Niedersachsen passiert. Dies erklärt sich vor allem durch die Gesamtzahl der Bahnübergänge: Niedersachsen hat als größtes Flächenland im Norden ein sehr gut ausgebautes Streckennetz - dementsprechend ist die Zahl der Bahnübergänge auch deutlich höher als beispielsweise in den Stadtstaaten Hamburg und Bremen. So zählte Niedersachsen im Jahr 2021 insgesamt 2039 Bahnübergänge, bundesweit hatte nur Bayern mit 2938 Bahnübergängen mehr.
Immer weniger Bahnübergänge, doch Zahl der Unfälle bleibt relativ konstant
Doch die Zahl der Bahnübergänge ist rückläufig: Seit den 50er Jahren ist sie vor allem durch Streckenstilllegungen und -verkauf um etwa die Hälfte gesunken. Auch die Zahl der Unfallopfer ist in dieser Zeit massiv zurückgegangen. Doch seit etwa zehn Jahren stagniert die Entwicklung. Nach 2010 hat die Deutsche Bahn AG (DB) zwar fast ein Fünftel der damals knapp 20.000 beschrankten und unbeschrankten Bahnübergänge abgebaut, wie die folgende Säulengrafik zeigt. So liegt die Zahl der Bahnübergänge im Jahr 2021 bei 15.971, aktuelle Zahlen für 2022 liegen noch nicht vor.
Deutsche Bahn, Bundesverkehrsministerium und die für Straßen zuständigen Träger in Ländern und Kommunen investieren jährlich Millionensummen für die Beseitigung von Bahnübergängen und die technische Modernisierung. Doch obwohl die Zahl der Bahnübergänge im Norden und auch im Rest von Deutschland kontinuierlich sinkt, hat sich das Niveau der Unfallzahlen bisher praktisch nicht verändert. Insbesondere die Zahl der Todesopfer bleibt konstant. Das ergab eine Auswertung von Daten der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU), die NDR Info und Panorama 3 vorliegen. Anhand der unteren Säulengrafik lässt diese Entwicklung gut nachverfolgen.
Eine der drei unfallträchtigsten Strecken Deutschlands liegt in Niedersachsen
Blickt man über das Jahr 2022 hinaus und schaut sich die Zahlen der vergangenen zwölf Jahre an, wird deutlich: Die unfallträchtigste Bahnstrecke in Norddeutschland ist die Regionalbahnstrecke Nr. 1560 in Niedersachsen. Sie liegt zwischen den Orten Delmenhorst und Hesepe. 40 Unfälle hat es dort insgesamt zwischen 2010 - 2022 gegeben. Ein Spitzenwert, auch im Bundesvergleich - denn nur auf den Strecken Nr. 5351 im südwestlichen Teil von Bayern und Nr. 2013 zwischen Münster und Rheda-Wiedenbrück in Nordrhein-Westfalen sind in den vergangenen zwölf Jahren mehr Unfälle passiert, wie die folgende Tabelle zeigt.
Die unfallsträchtigste Strecke im Norden liegt zwischen Delmenhorst und Hesepe
Eine Stadt, die an dieser unfallbelasteten Strecke Nr. 1560 liegt, ist Vechta. Allein an zwei Übergängen in Vechta ereigneten sich seit 2007 neun Unfälle mit insgesamt drei Toten. Ungefähr genauso lange dauerten die Verhandlungen mit der Deutschen Bahn und für eine bessere Sicherung der Übergänge. An einem der Übergänge gibt es eine Schranke, aber nur für Autos, nicht an dem daneben verlaufenden Radweg – immer wieder Ursache für Unfälle.
15 Jahre lang bemühte man sich deshalb dort um eine bessere Sicherung an den Bahnübergängen. Immer wieder habe es Zusagen von Seiten der Bahn gegeben, immer wieder wurden diese später zurückgezogen: Zu wenige Daten, der Umbau doch zu teuer. "Und weil das Thema einfach so lange schon da ist und da muss man sagen, da hat man auch irgendwann auch keine Lust mehr darauf, mit der Bahn zu reden“, sagt Bürgermeister Kristian Kater. „Man schreibt und schreibt und schreibt, aber am Ende muss die Lösung einfach da sein. Und da müssen wir in Deutschland einfach schneller sein."
Die Bahn äußert zwar Verständnis, Sprecher Achim Stauß gibt allerdings zu bedenken: "Das Ganze muss natürlich eingebettet sein in das Regelwerk der Straßenverkehrsordnung. Da bitten wir in einigen Fällen noch um Geduld.“ Im Raum Vechta gebe es aber jetzt Bewegung. In diesem Jahr wird eine Schranke gebaut, für weitere Übergänge laufen Planungen, heißt es.
Es ist bürokratisch. Nach dem Eisenbahnkreuzungsgesetz müssen sich drei Parteien einigen und die Umbauten bezahlen: Bund, DB und bis 2020 auch die Kommunen. Am Geld habe es bei ihnen jedenfalls nicht gelegen, sind sich Kristian Kater und sein Vorgänger Helmut Gels einig. Das hätte immer zur Verfügung gestanden. Fest steht: Bahnübergänge sind die unfallträchtigsten Stellen im Zugverkehr. Tote und Verletzte sind häufig, wenn Straßenfahrzeuge, Fußgänger und Züge aneinandergeraten. Arne Frahm, der seinen Unfall an der Bahnstrecke Nr. 1042 im nordwestlichen Schleswig-Holstein zwischen Neumünster und Heide hatte - der zweitunfallträchtigsten Strecke in Norddeutschland - ist da nur ein Beispiel.
„Jeder Unfall ist einer zu viel und jeder Unfall ist tragisch“, sagte DB-Sprecher Achim Stauß dem NDR. „Aber die absolute Zahl ist ja im Vergleich zu dem, was sonst im Straßenverkehr passiert, immer noch recht gering.“ Auch gemessen an der Zahl der Bahnübergänge seien rund 140 Kollisionen pro Jahr „ein sehr geringer Wert“.
Doch warum kommt es immer wieder zu Unfällen? Arne Frahm ist selbstkritisch. "Wenn man mit 20 Kilometern pro Stunde an einen Bahnübergang ranfährt und der gut einsehbar ist, dann liegt es an einem selber, wenn man den nicht sieht. Da ist dann klar: Da hat man einfach mal geträumt. Und so ähnlich muss das dann hier auch gewesen sein", sagt er.
Wie könnten Unfälle verhindert werden?
Für die Bahn scheint die Analyse klar: Ursache der Unfälle ist in mehr als 97 Prozent Fehlverhalten von Straßenverkehrsteilnehmern. So werden bei mehr als einem Drittel der Unfälle geschlossene Halbschranken umfahren. Doch Verkehrswissenschaftler, Bahningenieure und nicht zuletzt Beteiligte und Betroffene in Kommunen an unfallträchtigen Strecken und Übergängen meinen, ein Mehr an Sicherheitsmaßnahmen vor allem durch die Deutsche Bahn könnte viele Unfälle vermeiden helfen.
Wer durch Lichter gewarnt und durch Schranken aufgehalten wird, wird zur Einhaltung der Regeln und Vorschriften gezwungen, so die Idee. Doch technische Modernisierung, Aus- und Umbauten sind teuer, kosten rasch siebenstellige Summen. Planungs- und Genehmigungsprozesse dauern meist sehr lange, auch und besonders in der Diskussion mit dem Streckenbetreiber DB Netz, so die Erfahrung von Kommunalpolitikern.