Menschen mit Behinderung: Viele Hürden beim Arztbesuch
Einen Arzttermin zu bekommen, kann mühsam sein. Das kennen sicherlich viele. Was aber, wenn man dazu noch im Rollstuhl sitzt oder sich nicht richtig artikulieren kann? Für Menschen mit Behinderung wird der Praxisbesuch zur großen Herausforderung.
Saskia Schulz aus Hannover sitzt im Rollstuhl. Die 23-Jährige leidet an eine Cerebralparese. Sie kann ihre Beine nicht bewegen und leidet an schmerzhaften Krämpfen. Ihr Leben gestaltet sie so unabhängig wie möglich. Sie arbeitet und wohnt allein. Für vieles braucht sie dennoch Hilfe, zum Beispiel beim Arztbesuch. "Ich muss immer jemanden mitnehmen, der mir zum Beispiel auf die Liege hilft oder mir hilft, mich bei Untersuchungen zu entkleiden", sagt Schulz.
Saskia Schulz: "Es ist einfach ein Kampf"
Das bedeutet einen enormen Organisationsaufwand. Eine der größten Hürden sei aber, überhaupt einen geeigneten Arzt oder eine geeignete Ärztin zu finden. Saskia Schulz muss viel telefonieren bis sie eine barrierefreie Praxis findet. "Andere können das nicht ohne Hilfe", ordnet Gesundheitswissenschaftlerin Joana Roos Bugiel von der "Stiftung Alsterdorf" in Hamburg die Situation ein. "Die Erfahrung ist, dass es sehr schwierig ist. Und dass Menschen mit Behinderung immer noch absolut davon abhängig sind, ob es jemanden an ihrer Seite gibt, der unter Umständen bereit ist, für einen Termin zehn oder 20 Arztpraxen anzurufen."
Probleme gebe es auch mit dem Vergütungssystem, so die Expertin. Es benachteilige Ärzte und Ärztinnen, die Menschen mit Behinderung behandeln. Denn die zusätzliche Zeit im Behandlungszimmer wird nicht bezahlt. Vergütet werden alle Patienten gleich, nach Pauschalen. Das heißt, wenn eine Patientin wie Saskia Schulz beim Frauenarzt länger als der Durchschnitt braucht, bekommt dieser die zusätzliche Arbeit von den Kassen nicht bezahlt.
Spezialisierte Gesundheitszentren sind stark gefordert
Professor Stephan Martin leitet das Medizinische Zentrum für Erwachsene Menschen mit Behinderung (MZEB) in Hannover - das Bruno Valentin Institut. Es ist eins von etwa 40 spezialisierten Gesundheitszentren in Deutschland. Eigentlich sind die Zentren von der Politik als Unterstützung in der medizinischen Versorgung für Menschen mit Behinderung geschaffen worden. Heute schließen sie oft die Lücke.
Ärzte wollen angemessene Vergütung
Es sei ein grundsätzliches Problem im Gesundheitswesen, erklärt der Mediziner, dass sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich Patienten weitgehend über Durchschnittswerte abgerechnet würden. Das könne leicht dazu führen, dass Ärzte, die besonders schwer oder multipel eingeschränkte Patienten behandeln, rasch unwirtschaftlich arbeiten. Dabei geht es nicht nur um die Behandlungszeit. Auch wenn Ärzte und Ärztinnen zu viele Therapien oder Medikamente verschreiben, können sie von den Kassen geprüft werden und müssen unter Umständen mit Strafzahlungen rechnen. Wenn viele Patientinnen und Patienten mit einer Behinderung behandelt würden, könne das schnell passieren, erzählt Martin. Er fordert daher, "dass wir unproblematisch angeben können, dass wir Menschen mit einem besonderen Bedarf versorgen. Und dass man dann aus den Durchschnittsprüfungen herausgenommen wird - und dass es keine Strafandrohung obendrauf gibt, wenn man Menschen mit Behinderung versorgt".
Gespräche mit Krankenkassen und der Politik bisher erfolglos
So sieht das auch Joana Roos Bugiel von der "Stiftung Alsterdorf". "Ich wünsche mir, dass Ärzte und Ärztinnen das in die Vergütung mit einkalkulieren können, dass Menschen mit komplexen Behinderungen einfach mehr Zeit brauchen als andere Patientinnen und Patienten." Die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen schreibt auf Anfrage von NDR Info, Bestrebungen, das Abrechnungssystem anzupassen, würden in Gesprächen mit den Krankenkassen und der Politik immer wieder angesprochen, bisher ohne Erfolg.
Grüne wollen Aktionsplan "Barrierefreies Gesundheitswesen"
Das möchte die Grünen-Fraktion in der Bundesregierung ändern und hat einen Aktionsplan "Barrierefreies Gesundheitswesen" formuliert. Linda Heitmann, Bundestagsabgeordnete und Gesundheitspolitikerin der Grünen im Bundestag, erläutert die Maßnahmen: "In diesem Aktionsplan enthalten ist die Forderung nach einer besseren Vergütung. Wir möchten, dass der höhere Aufwand, der damit verbunden ist, dass Menschen mit Behinderung behandelt werden, entsprechend vergütet wird."
Eine weitere Maßnahme, um den Zugang von Menschen mit Behinderung zu medizinischer Versorgung zu verbessern: Sie sollen leichter an Hilfsmittel und Medikamente kommen, ohne, dass Ärzte und Ärztinnen mit Einzelfallprüfungen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen rechnen müssen. Wann sich das Bundesgesundheitsministerium unter Karl Lauterbach (SPD) mit den Forderungen befasse und einen entsprechenden Entwurf im Parlament vorlege, müsse abgewartet werden, so Heitmann.
Bis dahin bleibt Patientinnen wie Saskia Schulz weiterhin eine lange Suche nach Praxen. Inzwischen hat die 23-jährige aber zum Beispiel eine Frauenärztin gefunden - beim MZEB in Hannover.