Kirche auf der Kippe - wie sich der Norden vom Glauben abwendet
Die Menschen entfernen sich von der Kirche - auch in Norddeutschland, wie ein Blick auf die Austrittszahlen zeigt. Der Trend dürfte die nächsten Jahre weiter anhalten.
Von 2002 bis 2022 haben die beiden großen christlichen Kirchen in Norddeutschland rund ein Viertel ihrer Mitglieder verloren. Neben dem demografischen Wandel liegt das auch an der steigenden Zahl der Austritte. Der Trend ist schon länger zu beobachten, hat sich aber noch einmal beschleunigt. "Der massive Anstieg der Austrittszahlen in den letzten Jahren überrascht mich schon", sagt Jan Hermelink, Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Theologie an der Georg-August-Universität Göttingen.
2021 haben etwa rund 104.000 Menschen die nördlichen Kirchen verlassen, 2017 waren es noch 72.000 - ein Anstieg von 45 Prozent. Der Mitgliederschwund der Kirchen könnte so weitergehen: In einer aktuellen #NDRfragt-Umfrage sagt ein Viertel derjenigen, die noch in der Kirche sind, dass sie über einen Austritt nachdenken.
Deutliche regionale Unterschiede im Norden
Norddeutschland ist traditionell stark evangelisch geprägt, vor allem die Flächenländer Niedersachsen und Schleswig-Holstein. In beiden Ländern waren im vergangenen Jahr erstmals weniger als 40 Prozent der Menschen in der evangelischen Kirche. In einer Metropole wie Hamburg ist die Entkirchlichung schon weiter fortgeschritten - hier sind es nur noch gut 21 Prozent. "Der soziale Zwang, in der Kirche sein zu müssen, ist dort weit weniger ausgeprägt als auf dem Land", sagt Carsten Frerk von der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid), die von der religionskritischen und humanistischen Giordano-Bruno-Stiftung ins Leben gerufen worden ist.
In Mecklenburg-Vorpommern haben beide Konfessionen bereits ein niedriges Mitgliederniveau erreicht, gleichzeitig verzeichnen sie prozentual auch den stärksten Rückgang. "Die niedrigen Zahlen sind auch historisch begründet ", sagt der Göttinger Theologe Hermelink. Die gegen Religion und Kirchen gerichtete Politik der SED-Regierung hat dort früh eine Kultur der Konfessionslosigkeit geschaffen. "Es gibt vor Ort aber kleine, hoch engagierte Gruppen - und viele Menschen, die interessiert an der Kirche Anteil nehmen, auch wenn sie nicht Mitglied sind", so der Theologe.
Kirchenaustritt: Moral und Geld sind Hauptgründe
Warum treten die Menschen massenweise aus? Dieser Frage ging auch das Meinungsbarometer #NDRfragt nach. Ein Ergebnis: Vor allem andere Moralvorstellungen und die Kirchensteuer treiben die Befragten aus der Kirche. Frerk geht in die gleiche Richtung: Weite Teile der Gesellschaft würden sich von der Kirche entfremden, vor allem jungen Menschen in der Stadt brauchen sie schlicht nicht mehr. Theologe Jan Hermelink nennt neben der Kirchensteuer als einen weiteren Grund den fragwürdigen Umgang mit Missbrauchsfällen. "Das ist dann der letzte Anlass, eine an sich schon brüchige Beziehung zur Kirche zu beenden." Die evangelische Kirche würde dann ein Stück weit in "ökumenische Mithaftung" genommen für die Taten in der katholischen Kirche.
Die Kirchen versuchen schon lange, den Trend umzukehren, oft vergebens. "Seit Jahren versuchen die Kirchen, Mittel und Wege zu finden, vor allem durch mehr Kinder- und Familienarbeit, mit regionalen Tauffesten und jüngst etwa mit dem Vorschlag eines bundesweiten Tauftags", sagt Theologe Jan Hermelink.
Wie düster sieht sie also aus, die Zukunft der Kirche? Bereits 2019 veröffentlichte die Freiburger Albert-Ludwigs-Universität eine Prognose, nach der im Jahr 2060 nur noch 30 Prozent der deutschen Bevölkerung katholisch oder evangelisch sein werden. "Mit Blick auf die aktuellen Zahlen könnte die Studie schon wieder überholt sein und die Kirchen schneller ihre Mitglieder verlieren", sagt Hermelink.
Kirchen melden erneut neue Austrittsrekorde
Für 2022 meldete die evangelische Kirche deutschlandweit einen neuen Rekord an Austritten. Diese waren im Jahr 2022 mit 380.000 Menschen um ein Drittel höher als im Jahr 2021 und übertrafen erneut die Zahl der Todesfälle (365.000). Bei der katholischen Kirchen waren die Zahlen für 2022 sogar noch dramatischer: 522.821 Menschen kehrten der Kirche den Rücken, deutlich mehr als noch ein Jahr zuvor (knapp 360.000).
Carsten Frerk geht noch einen Schritt weiter. Der Trend zur säkularen Gesellschaft wird sich seiner Meinung nach in den nächsten Jahren ungebremst fortsetzen. Bereits 2021 waren die Mitglieder der christlichen Kirchen erstmals nach Jahrhunderten nicht mehr in der Mehrheit, künftig könnte das für alle Religionen in Deutschland gelten. "Wir gehen davon aus, dass bereits im Jahr 2028 die Mehrheit in Deutschland keiner Religion mehr angehört", so Frerk.
Mitarbeit: Serafin Arhelger