Ein Mann trägt bei einem Umzug einen Karton durch ein Treppenhaus. © picture alliance / Schoening Foto: Schoening

Zensus 2022: Die Jungen zieht's nach Westen und in die Städte

Stand: 26.06.2024 13:06 Uhr

Der Zensus zeigt: Fast überall im Osten Deutschlands ist die Zahl der jungen Erwachsenen eingebrochen. Im Westen steigt ihre Zahl – außer in manchen ländlichen Gegenden.

von Lalon Sander und Sebastian Vesper

“Man merkt jetzt schon, dass die jungen Menschen fehlen", sagt Gabi Lubahn. Sie ist Vorsitzende des Kulturvereins in Kargow – einem Dorf im Kreis Mecklenburgische Seenplatte. Der Verein will das Dorfleben ankurbeln. Aber junge Menschen, die da mitmachen möchten, die gebe es kaum, erzählt Lubahn.

Im Kreis Mecklenburgische Seenplatte gab es laut der letzten großen Volkszählung, dem Zensus 2011, etwa 61.000 junge Erwachsene im Alter von 19 bis 39 Jahren. Elf Jahre später sind es laut Zensus 2022 nur noch 45.000, ein Rückgang um 26 Prozent. Auch insgesamt ist hier die Bevölkerung um acht Prozent geschrumpft – entgegen dem Trend: Denn die deutsche Bevölkerung insgesamt ist seit 2011 um mehr als zwei Millionen gewachsen.

Weniger junge Menschen in Ostdeutschland - klare Ost-West-Grenze

Die Mecklenburgische Seenplatte ist in gewisser Weise typisch für ganz Ostdeutschland: Auf dem Land sinkt die Zahl der jungen Erwachsenen überall – nicht aber in großen Städten wie Berlin, Erfurt, Leipzig und Magdeburg. Und die Entwicklung hat deutliche Konturen: Im Westen gibt es zwar auch Kreise, in denen es weniger Junge gibt, aber der Rückgang ist bei Weitem nicht so flächendeckend oder so drastisch wie innerhalb der ehemaligen DDR-Grenzen. Wo es weniger junge Menschen in Westdeutschland gibt – in manchen Landkreisen in Bayern, Hessen und Niedersachsen – ist ihre Zahl um 5 bis 10 Prozent geschrumpft. Im Osten sind sie oft um 20 bis 30 Prozent weniger geworden.

Weniger junge Erwachsene, das bedeutet: Hier gibt es weniger Bildungsmöglichkeiten und weniger Jobs. Wer eine Karriere oder eine Familie plant, sieht die eigene Zukunft eher anderswo. Es bedeutet außerdem: Hier sind weniger Menschen, die wichtige Rollen in der Gesellschaft übernehmen, weniger Nachwuchs für Vereine und Organisationen, weniger Steuerzahlende und weniger Menschen, die Kinder bekommen. Ein Teufelskreis.

Egal ob Ost oder West: Die meisten jungen Erwachsenen leben in den Städten. In Rostock, Jena, Dresden und Leipzig ist ihr Anteil ähnlich hoch wie in München, Stuttgart oder Düsseldorf. Doch in den ländlichen Gegenden Ostdeutschlands sind oft weniger als 20 Prozent der Bevölkerung zwischen 19 und 39 Jahren.

Abwanderung der Jungen nicht unbedingt ein Stadt-Land-Problem

Im Westen der Republik gibt es dagegen selbst auf dem Land Wachstumsregionen. Im Landkreis Oldenburg in Niedersachsen, beispielsweise, ist die Zahl der jungen Erwachsenen zwischen 2011 und 2022 von 26.000 auf mehr als 29.000 gewachsen. Einer davon ist Miguel Bebensee – 27 Jahre alt. Er ist im Landkreis Oldenburg aufgewachsen, hat dort studiert und lebt immer noch hier. “Der Landkreis ist gut gelegen, man kommt schnell nach Oldenburg, nach Bremen, und es gibt auch wirklich viel Natur”, sagt er. 2019 hat er ein IT-Unternehmen gegründet. Von anderen Unternehmern in der Region habe er in dieser Zeit viel lernen können. In seiner Branche könne er jetzt eigentlich von überall arbeiten, “mit dem Laptop vom Strand oder so”. Aber er will bleiben: “Ich habe mir hier viele gute Kontakte aufgebaut, und die werde ich auch weiterhin nutzen”.

Junge ziehen wegen Karriere und Lebensqualität um

Junge Erwachsene sind oft mobiler als andere Bevölkerungsgruppen, sie haben noch keine oder junge Familien, suchen Ausbildungsstätten oder wechseln für den Karriereeinstieg den Wohnort. Dabei spielen vor allem die Jobaussichten eine wichtige Rolle, sagt der Arbeitsmarktforscher Cornelius Peters. Es gebe aber auch noch sogenannte weiche Faktoren, die Orte attraktiv machen: “Nach der Ausbildung oder dem Studium ziehen viele zunächst insbesondere in Großstädte, die ein großes kulturelles Angebot haben, touristisch attraktiv sind und über eine gute Infrastruktur verfügen”, so Peters.

Ihre Wanderungsbewegungen sind deshalb ein wirtschaftlicher Indikator, der viele Aspekte eines Ortes in sich vereint: Wo bekommt man eine gute Ausbildung? Wo sind die Jobchancen gut? Wo sind Lebenshaltungskosten niedrig? Wo gibt es attraktive Freizeitangebote? Wo will man seine Kinder großziehen? Dort wo viele junge Erwachsene hinziehen, gibt es meist eine attraktive Kombination vieler dieser Faktoren.

Und die jungen Erwachsenen, die im ländlichen Osten leben? Die fühlten, dass sie in der Minderheit sind, sagt die Soziologin Julia Gabler aus der Lausitz in Sachsen. Sie hat dazu geforscht, was junge Frauen dazu bewegen könnte, in ländlichen Regionen in Osten zu bleiben: "Bei der Ansiedlung von Unternehmen muss daran gedacht werden, dass man eine entsprechende Infrastruktur schafft, zum Beispiel ausreichend Kindergartenplätze", sagt sie. Eigentlich sei das bekannt, es müsse nur umgesetzt werden. Ökonomischen Erfolg im ländlichen Ostdeutschland gebe es nur, wenn soziale Faktoren mitgedacht würden.

Ostdeutschland: Rasanter Geburtenknick nach der Wende

Doch es sind nicht nur wirtschaftliche Gründe oder mangelnde Infrastruktur: Wie sich die Bevölkerungsstruktur an einem Ort verändert, hängt auch mit den Geburtenraten zusammen - nicht nur mit den aktuellen, sondern auch damit, wieviele Kinder die Menschen vor vielen Jahren bekommen haben. So fiel nach der Wende 1990 die Geburtenrate in den östlichen Bundesländern steil ab. In der Folge halbierte sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen zwischen dem Jahr 1990 und dem Jahr 2011, als der letzte Zensus erhoben wurde.

2011 waren die meisten jungen Erwachsenen noch vor dem Mauerfall geboren, als die Geburtenrate in der DDR höher war als in der Bundesrepublik. Inzwischen sind die besonders geburtenschwachen Jahrgänge aus den Anfängen der 90er Jahre junge Erwachsene. Dass es jetzt weniger junge Erwachsene im Osten gibt, hängt also neben der Abwanderung auch daran, dass Menschen vor 30 Jahren weniger Kinder bekommen haben.

Trend-Umkehr im Osten in Sicht

In den kommenden Jahrzehnten könnte sich das zum Teil wieder umkehren: Im Osten werden nämlich seit einiger Zeit wieder mehr Kinder geboren. Die Geburtenraten in Ost und West haben sich im vergangenen Jahrzehnt angeglichen, die Zahl der Kinder in Ostdeutschland ist zwischen 2011 und 2022 gestiegen. Und es ziehen auch wieder mehr Menschen aufs ostdeutsche Land, so dass sich das Verhältnis umgekehrt hat: Es kommen mehr als gehen.

 

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