Afghanistan: Ex-Ortskraft zwischen Hoffnung und Verzweiflung
Zwei Jahrzehnte lang war die Bundeswehr am Hindukusch im Einsatz, um in Afghanistan für Sicherheit zu sorgen und die Bevölkerung zu unterstützen. Im Sommer 2021 zogen die NATO-Truppen ab und es erfolgte die schnelle Eroberung des Landes durch die Taliban. Ehemalige Helfer vor Ort sind enttäuscht.
"Ihr habt die Afghanen im Stich gelassen", sagt Aliullah Nazary, ein ehemaliger Dolmetscher der Bundeswehr. NDR Reporter hatten ihn 2013 in Kundus kennengelernt und sind bis heute in Kontakt mit ihm. Er lebt inzwischen mit seiner Familie in Hamburg.
Ob es in letzter Zeit mal einen Tag gab, an dem er nicht mit seiner Familie über Afghanistan gesprochen hat? Nazary überlegt kurz. "Nein", antwortet er. Mit seinen Gedanken sei er ständig in der alten Heimat.
Chaos nach erneuter Machtübernahme der Taliban
Nach der Machtübernahme der Taliban vor eineinhalb Jahren stürzte Afghanistan ins Chaos. "Die Frauen können nicht zur Schule gehen, die können nicht zur Arbeit gehen", sagt Nazary. Die Menschen in Afghanistan hätten ständig Angst vor den Taliban: "Das ist wirklich sehr schrecklich."
Nazary selbst entkam der Angst 2014. Er geriet in Lebensgefahr, als er für die Bundeswehr in Kundus als Übersetzer arbeitete. Ihm gelang damals die Ausreise nach Hamburg. Von hier aus hält er Kontakt zu seinem Onkel, auch er wird von den Taliban bedroht. "Er muss es leider dort aushalten, obwohl es ihm sehr schlecht geht. Er hat leider keine Möglichkeiten, aus Afghanistan wegzukommen", sagt Nazary.
Dunkelheit nach "Zeit der Hoffnung"
Wegzukommen ist heute fast unmöglich. Die Menschen lebten nach einer Zeit der Hoffnung wieder unter Zwang, in Dunkelheit, so schildert es der 33-Jährige mit den hellbraunen wachen Augen. Er sieht Deutschland, das seine Truppen mit den USA überstürzt abzog, in der Verantwortung. "Die haben das zu einem sehr schlechten Zeitpunkt entschieden, Afghanistan zu verlassen und die haben leider die Afghanen im Stich gelassen", so Nazary.
Ein Jahr nach seiner Flucht konnte er die Eltern, seinen Bruder und seine Schwester nachholen. Unvergesslich ist für ihn ihre sichere Ankunft am Hamburger Flughafen im August 2015: "Ich war an dem Tag sehr aufgeregt und gleichzeitig sehr glücklich. Ich habe meine Eltern und meine Geschwister umarmt und das war ein sehr sehr schönes Gefühl."
Vom Nullpunkt zur neuen Heimat
Seitdem hat sich vieles in Aliullah Nazarys Leben geändert. Er lernt die deutsche Sprache, wird immer mehr im nasskalten Hamburg heimisch und beginnt hier selbst Geflüchtete und Migranten zu beraten - in einem Integrationsprojekt der Arbeiterwohlfahrt. "Das schönste Gefühl für mich ist, dass ich meine Landsleute unterstützen kann, ihnen helfen kann, dass sie sich im Alltagsleben hier in Deutschland besser fühlen", sagt Nazary.
Er weiß, dass es bis dahin ein weiter Weg sein kann, selbst nachdem der erste Kulturschock überwunden ist. "Man verlässt nicht nur ein Land. Man verlässt alle Sachen, die man dort aufgebaut hat", sagt Nazary. Man fange am Nullpunkt wieder an. Um in dieser Situation durchzukommen, müsse man sehr mutig sein.
Aliullah Nazary schöpfte in seiner neuen Heimat Mut. Seit Kurzem besitzt er die deutsche Staatsbürgerschaft. Hamburg ist sein zweites Zuhause geworden. Mit seinem ersten, Kundus, bleibe er aber weiter fest verbunden.