Hamburg: Gebrauchte Räder für Bedürftige
Als 2015 viele Menschen auf der Flucht nach Deutschland kamen, empfingen sie hier andere, die helfen wollten. Zahlreiche Initiativen entstanden und aus manchen ist viel mehr geworden als nur ein spontanes, kurzfristiges Hilfsprojekt. Der Verein Westwind in Hamburg beispielsweise ist stetig gewachsen und versorgt inzwischen nicht nur Geflüchtete, sondern auch andere Bedürftige mit gebrauchten Fahrrädern, wie die NDR Info Perspektiven berichten.
Aktuell wird in der Westwind-Werkstatt an drei Fahrrädern gleichzeitig geschraubt. Dabei wird erst mal Grundlegendes repariert: Kette und Ritzel werden meistens getauscht, die Getriebenaben werden gesäubert, Bremszüge, Schaltzüge und Bremsbeläge werden getauscht. Ziel ist, dass die Räder möglichst lange halten. Christian Großeholz ist Fahrradmechaniker und einer der Gründer des Vereins Westwind. Das Konzept ist einfach. Wer sich selbst kein Fahrrad leisten kann, bekommt eines von Westwind. Die Idee entstand vor gut drei Jahren, erzählt er: "Ich wollt einfach erst mal nur ein paar Fahrräder fertig machen, um Geflüchteten die Möglichkeit zu geben, von ihren Unterkünften in die Stadt zu kommen. Ich habe dann nach Feierabend geschraubt und irgendwann haben dann auch Kollegen angefangen mitzuhelfen und das war eigentlich so der Start."
Lange Wartelisten für ein gebrauchtes Rad
Es war der Start eines Hippie-Projektes, wie es Carmen Wilckens, die zweite Gründerin, nennt. Erst wurden sie die aufpolierten Spendenfahrräder gar nicht los, weil die Betreiber der Flüchtlingsunterkünfte mit anderen Problemen zu kämpfen hatten als mit der Verteilung von Fahrrädern. Doch seit 2016 ist die Nachfrage groß, erzählt Wilckens: "Dann haben wir eine Warteliste eingeführt, weil wir nicht mehr sehen mussten, dass wir die Fahrräder loswerden, sondern weil sich das total gedreht hatte. Wir sind teilweise dann nicht hinterhergekommen, die Fahrräder fertig zu machen."
Projekt bringt auch Menschen zusammen
Inzwischen hat der Verein etwa 1.300 Fahrräder verteilt. Nebenan in der Werkstatt reparieren gerade ein Rentner und ein Syrer Fahrrad um Fahrrad und hier wird klar, dass das Projekt inzwischen viel mehr als eine spontane Hilfsidee ist: "Ich bin seit Mai in Rente und habe wieder eine Beschäftigung gesucht, eine sinnvolle Beschäftigung", erklärt es der Rentner. Der Syrer ergänzt: "Ich bin 52 Jahre alt und 30 Jahre war ich in Arbeit. Ich kann hier nicht einfach zu Hause bleiben. Arbeit ist Leben."
Spontane Spenden erfreuen den Verein
In einem blauen Container gleich neben der Hamburger Rindermarkthalle befindet sich quasi das Herz von Westwind: die Annahme- und Ausgabestelle des Vereins. Jeden Sonnabend kommen Ehrenamtliche hierher, um Fahrräder von Spendern entgegenzunehmen. Wie in der Westwind-Werkstatt wird auch hier gleich an den Rädern geschraubt. In Glücksfällen ist dies allerdings gar nicht nötig. Ein Wagen hält auf dem Parkplatz und kurz darauf klopft ein Mann an den Container: "Moin, hallo. Ich hab da was aufm Auto für euch. Es sind zwei Fahrräder, funktionstüchtig, sogar straßenmäßig. Die sind bis vor Kurzem noch auf der Straße gefahren. Meine Frau und ich haben uns jetzt E-Bikes gekauft und jetzt sind die über." Eine Ehrenamtliche begleitet den Besucher, Michael Klimm, zu seinem Auto. Er bringt zum ersten Mal Fahrräder zu Westwind und hat den Verein im Internet gefunden. Er wollte die Räder nicht einfach "auf den Schrott schmeißen", das seien sie nämlich "noch nicht wert", erzählt er. Solche Spenden freuen die Westwind-Leute, denn auf der Warteliste stehen aktuell 200 Menschen.
Allen Bedürftigen wird geholfen
Das Projekt hat sich in den vergangenen drei Jahren gewandelt. Inzwischen gehen die Räder nicht mehr nur an Geflüchtete, sondern an alle, die ein Rad brauchen und es nicht kaufen können. Carmen Wilckens erzählt aus dem Alltag: "Oft erleben wir, dass die Leute sich ganz zaghaft, ganz schüchtern an uns wenden und umständlich erklären, dass sie ja gar nicht genug Geld haben, eine schmale Rente haben. Die kommen mit ihrem Rentenbescheid teilweise zu uns in den Container an der Rindermarkthalle. Oder sie erklären, die Kinder sind aus dem Fahrrad rausgewachsen, bräuchten ein größeres Fahrrad, sie können sich das nicht leisten." Gerade kommt Sam am Container an. Er ist aus Damaskus, lebt seit drei Jahren hier und studiert Medizin. Mit dem Fahrrad will er zur Uni fahren. Er hat endlich eine E-Mail von Westwind bekommen, dass er sich ein Fahrrad abholen kann. Vorher hatte er etwa fünf Monate auf der Warteliste gestanden. Auch seine Schwestern sind dabei, um Räder auszuprobieren. Sam ist sehr zufrieden: "Also ich finde, mein Fahrrad ist richtig cool."
Ein Projekt mit Zukunftsperspektiven
Aus dem sogenannten Hippie-Projekt ist richtig Ernst geworden: Zwei halbe Stellen, ein Bundesfreiwilligendienstler, ein Mini-Jobber und die 30 Ehrenamtlichen - all das muss organisiert und immer wieder mit Fördergeldern und Spenden neu finanziert werden: "Und das ist so eine Dimension, die sich da plötzlich entwickelt hat, wo man sich manchmal hinsetzt und sagt: Wow, da muss ich mal tief Luft holen", erzählt Wilckens. Man müsse dann Schritt für Schritt weitermachen. Vielleicht bilde Westwind e.V. ja irgendwann sogar junge Leute zu Fahrradmechanikern aus, skizziert sie eine mögliche Zukunftsperspektive des Vereins. Und Mitgründer Christian Großeholz ergänzt: "Letztendlich geht es hier um Lebensqualität und Mobilität und die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe, sowohl für Geflüchtete als auch andere Bedürftige. Und das Fahrrad ist natürlich eigentlich auch das Verkehrsmittel in der Stadt."