Gesundheitskioske: Doppelstruktur oder Antwort auf soziale Kluft?
Gesundheitskioske sollen die medizinische Vorsorge in sozial benachteiligten Regionen verbessern. Die FDP blockiert eine flächendeckende Umsetzung, es handele sich um "ineffiziente Doppelstrukturen". Verbessern sie trotzdem das Gesundheitssystem? In Hamburg gibt es bereits Erfahrungen damit.
Mitten in der Hochhaussiedlung Mümmelmannsberg, in den Räumen der Stadtteilklinik, befindet sich einer von fünf Gesundheitskiosken in Hamburg. Ein Modellprojekt in sozioökonomisch benachteiligten Stadtteilen, gestartet im Jahr 2017. Fast ein Viertel der Menschen hier sind langzeitarbeitslos, knapp die Hälfte aller Kinder sind auf die staatliche Kindergrundsicherung angewiesen.
Im Beratungszimmer betreut Döne Duman eine Patientin, die unter durch Diabetes verursachter Neuropathie leidet, das heißt, sie hat kaum noch Gefühl in Händen und Füßen. Duman kontrolliert deshalb den Blutzucker und bespricht mit der Patientin, was sie an ihrer Ernährung ändern könnte.
Gesundheitspfleger haben mehr Zeit für Beratung
Die examinierte Gesundheitspflegerin kennt die 60-Jährige schon einige Jahre. Sie kommt auf Empfehlung ihres Hausarztes, weil sie hier mit Zeit und Ruhe beraten werden kann. "Mein Arzt hat mir vor ein paar Jahren gesagt, dass er wegen der Gesetze im Gesundheitssystem für jeden Patienten nur fünf Minuten hat", berichtet sie. "Darüber hat er sich aufgeregt." Döne Duman dagegen hat 30 Minuten Zeit für ein Gespräch, bei einer Erstberatung sogar 45 Minuten.
Es geht nicht nur um die Krankheit an sich, sondern vor allem um den Lebensstil, die familiären, sozialen und beruflichen Gegebenheiten. Diese Beratung kann in der Pflege kosteneffizienter als im ärztlichen Bereich angeboten werden. Im Gesundheitskiosk wird geklärt, welcher Behandlungs- und Versorgungsbedarf überhaupt vorliegt, welche Ärzte aufgesucht werden müssten, vor allem aber auch: Welche Angebote zur Gesundheitsprävention - etwa Sportkurse oder Ernährungsberatung - gibt es in der Nähe? Döne Duman hilft ihrer Patientin zum Beispiel auch bei der Suche nach einer Wohnung weiter unten im Haus, damit sie öfter mal rauskommt.
Kioske als Ergänzung des medizinischen Angebotes
Forschende sprechen dabei von sozialer Steuerungsfunktion. "In vielen dieser Beratungsanliegen liegt ja eine soziale Komponente, die gar nicht adäquat von den Medizinerinnen adressiert werden kann", sagt Eva Wild, Gesundheitsökonomin an der Universität Hamburg. Sie hat die ersten drei Jahre der Hamburger Gesundheitskioske wissenschaftlich begleitet - und dabei auch gesehen, dass die Thematik der Patientin in Mümmelmannsberg exemplarisch ist.
40 Prozent der Beratungen im Auswertungszeitraum im Gesundheitskiosk Billstedt drehten sich um Übergewicht. Das klingt banaler als es sein könnte - denn gerade dabei ist Vorsorge ein Schlüssel, um schwerwiegende Folgeerkrankungen zu verhindern. Auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen registriert das Team in Mümmelmannsberg bei seinen Patienten ständig.
Die Einrichtung solle den Arzt nicht ersetzen, sondern das medizinische Angebot ergänzen, sagt der Geschäftsführer der Gesundheitskioske in Hamburg, Alexander Fischer. Tatsächlich zeigt die Evaluation von Eva Wild und Kollegen, dass vor allem Patienten mit Überweisungsschein vom Arzt kamen.
Gesundheitsbus auf dem Land sinnvoller
Das Gesundheitsministerium wollte eigentlich 1.000 solcher Kiosk-Anlaufstellen in ganz Deutschland etablieren. Man orientiert sich dabei vor allem am Vorbild Finnland. Anders als in den sogenannten "Walk-in clinics" in den USA geht es bei dem Hamburger Modellprojekt mehr um Sozialmedizin als um Erstversorgung. Doch je nach Lage steht ein anderer Bedarf im Mittelpunkt. Der Gesundheitskiosk Billstedt ist viel mehr erste Anlaufstelle für akute Probleme als der in Mümmelmannsberg; er liegt direkt am Marktplatz und nicht in einem Wohngebiet.
Gesundheitskioske sollten deshalb nicht nach dem Gießkannenprinzip verteilt werden, sagt die Gesundheitsökonomin Wild, sondern immer berücksichtigen, welche Strukturen es schon gibt und wo sie besser genutzt werden können. Dazu zähle auch, dass man in ländlichen Regionen besser einen mobilen Gesundheitsbus einsetzt als einen Kiosk zu errichten.
Statistik: Arme Menschen sterben früher
Wie stark Gesundheit mit dem sozioökonomischen Status zusammenhängt, wird auch anhand der Statistik deutlich. Je nach Methodik bezifferten Forschende den Unterschied in der Lebenserwartung zwischen Arm und Reich bei Männern zuletzt auf bis zu acht Jahre. Eine aktuelle Studie des Robert Koch-Instituts geht zwar von einer geringeren Differenz in Jahren aus - hält aber auch fest, dass sich der Trend zu sozialen Unterschieden in der Lebenserwartung zuletzt weiter verstärkt habe. “Man muss sich klarmachen, wie stark die Beziehungen zum Teil sind”, sagt der Düsseldorfer Medizinsoziologe Nico Dragano. “Wir reden hier nicht über irgendwelche beiläufig erhöhten Risiken."
Das hat mit verschiedenen Faktoren zu tun - weniger Wissen darüber, wie man Krankheiten vorbeugen kann, Umwelteinflüsse, schlechterer Zugang zur Gesundheitsversorgung. Im Hamburger Stadtteil Billstedt gibt es zwar ähnlich viele Hausärzte wie in privilegierteren Vierteln. Zählt man aber die Fachärzte dazu, hat Billstedt nur ein Viertel so viele Arztpraxen wie beispielsweise Eimsbüttel. Die Überlastung der Praxen sei in der wissenschaftlichen Auswertung zentral gewesen, so Eva Wild. "Dadurch, dass es kein attraktiver Stadtteil ist, haben wir eine starke Abwanderungstendenz von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten beobachtet."
Entlastung für Notaufnahmen?
Auch Krankenhäuser könnten entlastet werden, meint Alexander Fischer. Denn viele gingen nur in die Notaufnahme, weil sie hofften, dort verstanden zu werden. Denn ein weiteres Problem ist die Sprachbarriere: Deutsch, Farsi/Dari, Russisch und Polnisch werden im Gesundheitskiosk in Mümmelmannsberg angeboten. "Ich kann hier alles fragen", sagt die Diabetes-Patientin in der Beratung von Döne Duman. Obwohl sie gut Deutsch spricht, gebe es ihr Sicherheit, dass sie auch auf Türkisch zurückgreifen könne. Kommende Woche hat die Patientin wieder einen Termin. Ihr 30-jähriger Sohn wird mitkommen, sein Arzt hat es ihm empfohlen. Der 30-jährige leidet bereits unter Bluthochdruck.
Ungeklärte Finanzierung
Die Zukunft der Hamburger Einrichtungen ist aber nicht erst fraglich, seit die FDP die deutschlandweite Umsetzung des Modells blockiert. Im Herbst vergangenen Jahres haben sich drei große Versicherer zurückgezogen. Bis dahin hatten alle gesetzlichen Krankenkassen drei Viertel der Kosten der Gesundheitskioske übernommen. 20 Prozent zahlt die Kommune, fünf Prozent die privaten Kassen.
"Jetzt haben wir nur noch einen Vertrag mit der Mobile Krankenkasse und der AOK Rheinland Hamburg", sagt Geschäftsführer Fischer. Als die drei großen Versicherer letztes Jahr ausstiegen, habe sich bereits abgezeichnet, dass der politische Druck zunimmt.
Gesundheitsökonomin Wild: Effekte zeigen sich langfristig
Für die Wissenschaftlerin Eva Wild greift das wirtschaftliche Argument zu kurz. Auf den ersten Blick können die Gesundheitsökonomen der Universität Hamburg den wirtschaftlichen Einwand der FDP, es würden teure Doppelstrukturen entstehen, mit ihrem Evaluationsergebnis zwar nicht entkräften. "Die Leistungsinanspruchnahme ist gestiegen und damit auch die Kosten der Krankenkassen", sagt Wild. Doch folgt man dem übergeordneten Ziel, die Gesundheitskompetenz und Versorgung in benachteiligten Regionen zu stärken, sieht Wild solche Effekte bis zu einem gewissen Punkt nicht als Systemfehler.
Man müsse damit rechnen, dass sich viele Wirkungen erst beispielsweise nach fünf Jahren zeigen, das leite sich auch aus der internationalen Evidenz ab. Deshalb planen die Forschenden in Hamburg nun auch eine längerfristige Evaluation des Projekts. Um beim Beispiel Adipositas zu bleiben: Die Folgen sind gewaltig, auch volkswirtschaftlich, und sie kommen unter ärmeren Menschen häufiger vor. Laut Prognose der World Obesity Federation könnten sich die Kosten durch Übergewicht in Deutschland bis zum Jahr 2035 auf rund 142 Millionen US-Dollar belaufen.
Für jeden Gesundheitskiosk geht das Ministerium derzeit von 400.000 Euro Kosten aus. Inwieweit sich das auszahlen könnte, ließe sich auch aus der internationalen Forschung nur schwer ableiten, sagt Eva Wild. Zu verschieden seien die Modelle je nach Standort - und das ist ja auch der Sinn der Sache, weil sie nur dann die soziale Kluft gut schließen können.