Amoklauf in Hamburg: Anonymer Hinweisgeber warnte vor Täter
Bei den Schüssen am Donnerstagabend in einem Gebäude der Zeugen Jehovas in Hamburg hat es acht Tote und acht Verletzte gegeben. Das teilte Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) am Freitag in Hamburg auf einer Pressekonferenz mit. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) nennt als mögliche Konsequenz aus der Tat, den Entwurf für ein schärferes Waffenrecht noch strenger zu fassen.
Zu den Toten zählt die Polizei auch den Täter sowie ein ungeborenes Kind. Grote bezeichnete den Vorfall als Amoklauf. "Eine Amoktat dieser Dimension - das kannten wir bislang nicht. Das ist die schlimmste Straftat, das schlimmste Verbrechen in der jüngeren Geschichte unserer Stadt."
Täter war 35 Jahre alt und Sportschütze
Bei dem Täter handelt es sich den Angaben auf der Pressekonferenz zufolge um den 35-jährigen Philipp F.. Dieser sei ein ehemaliges Mitglied der Hamburger Gemeinde der Zeugen Jehovas gewesen und habe diese vor eineinhalb Jahren freiwillig, aber offensichtlich nicht im Guten verlassen, wie Polizei, Staatsanwaltschaft und Innenbehörde mittteilten. Der Mann sei Sportschütze gewesen und habe seit Dezember 2022 eine Waffenbesitzkarte gehabt, sagte der Hamburger Polizeipräsident Ralf Martin Meyer. "Seit dem 12. Dezember befand er sich somit im legalen Besitz einer halbautomatischen Pistole." Dabei handele es sich um die Tatwaffe. In der kurz nach Mitternacht durchsuchten Wohnung von Philipp F. wurde nach Angaben der Polizei eine große Menge Munition gefunden - 15 geladene Magazine mit jeweils 15 Patronen und 4 Schachteln Munition mit weiteren 200 Patronen.
Anonymer Hinweis erreichte Behörde im Januar
Die Waffenbehörde erhielt nach Angaben des Polizeipräsidenten Meyer im Januar einen anonymen Hinweis auf eine mögliche psychische Erkrankung von Philipp F.. Ziel des unbekannten Schreibers sei es gewesen, das Verhalten und die waffenrechtlichen Vorschriften in Bezug auf Philipp F. überprüfen zu lassen. F. habe laut dem Schreiben eine besondere Wut auf religiöse Anhänger gehegt, besonders auf die Zeugen Jehovas und seinen ehemaligen Arbeitgeber. Die unbekannte Person habe ferner geschrieben, dass die psychische Erkrankung von F. möglicherweise ärztlich nicht diagnostiziert sei, da sich F. nicht in ärztliche Behandlung begebe.
Die Beamten der Waffenbehörde hätten nach dem Hinweis weiter recherchiert. Anfang Februar wurde F. von zwei Beamten der Waffenbehörde unangekündigt aufgesucht. Bei der Kontrolle habe sich F. kooperativ gezeigt, sagte Meyer. Es habe keine relevanten Beanstandungen gegeben. Die rechtlichen Möglichkeiten seien damit ausgeschöpft gewesen.
Auch mindestens vier Personen lebensbedrohlich verletzt
Bei den Todesopfern handelt es sich um vier Männer, zwei Frauen und einen weiblichen Fötus im Alter von 28 Wochen. Die Männer und Frauen seien zwischen 33 und 60 Jahre alt, sagte der Leiter des Staatsschutzes der Polizei, Thomas Radszuweit, auf der Pressekonferenz am Freitag. Alle Todesopfer seien durch Schusseinwirkungen gestorben. Darüber hinaus seien sechs Frauen und zwei Männer im Alter zwischen 23 und 46 Jahren verletzt worden, mindestens vier von ihnen lebensbedrohlich, "teils mit multiplen Schusswunden", sagte Radszuweit.
Tödliche Schüsse am Donnerstagabend
Die tödlichen Schüsse waren am Donnerstagabend gegen 21 Uhr während einer Veranstaltung im Gebäude der Gemeinde im Hamburger Stadtteil Alsterdorf gefallen. Das hatte zu einem Großeinsatz geführt. Dabei war die Polizei binnen Minuten am Tatort: Um 21.04 Uhr seien die ersten Notrufe eingegangen. "Um 21.08 Uhr waren erste Kräfte vor Ort", sagte Grote. Nur eine Minute später, um 21.09 Uhr, sei die Unterstützungsstreife für erschwerte Einsatzlagen (USE) am Tatort gewesen.
Speziell ausgebildete Polizeikräfte stoppten den Täter
Die Einsatzkräfte retteten nach den Worten des Innensenators sehr wahrscheinlich etliche Menschenleben. "Wir haben es mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit dem sehr, sehr schnellen und entschlossenen Eingreifen der Einsatzkräfte der Polizei zu verdanken, dass hier nicht noch mehr Opfer zu beklagen sind", sagte Grote. Dabei war es nach Aussage der Polizei ein günstiger Umstand, dass die speziell ausgebildeteten und gut aufeinander eingespielten Beamten noch im Dienst waren, als der Notruf eintraf. Dadurch konnten sie den Amoktäter stoppen. Nach Angaben der Polizei hat er mehr als 100 Mal geschossen. "Insgesamt hat er 9 Magazine à 15 Schuss verschossen", sagte der Hamburger Staatsschutz-Leiter Radszuweit. Weitere 22 Magazine habe er dabei gehabt.
Polizei: 20 Menschen unverletzt gerettet
Laut Polizei konnten etwa 20 Personen unverletzt aus dem Gebäude gerettet werden. Auch die Menschen, die verletzt gerettet worden seien, "rechnen wir dem Einschreiten der Polizei zu", sagte der Leiter der Schutzpolizei, Matthias Tresp.
Tschentscher, Scholz und Faeser bestürzt
Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) sprach bei einem Besuch in Alsterdorf den Angehörigen der Toten sein Beileid aus. Die Tat löse "in ganz Hamburg und weit darüber hinaus größte Trauer und Entsetzen aus", sagte Tschentscher am Freitagabend. Er dankte den Einsatzkräften für deren professionellen Einsatz. Nur das schnelle Eingreifen der Polizei habe den Mord an weiteren Personen verhindern können. Die Behörden arbeiteten "weiter mit Hochdruck an der Aufklärung der Hintergründe der Tat".
Faeser: Waffenrecht möglicherweise noch stärker verschärfen
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und der Hamburger Innensenator besuchten am Freitagnachmittag gemeinsam den Tatort und legten dort zwei Blumenkränze nieder. Faeser: "Es ist kaum in Worte zu fassen, was hier Furchtbares passiert ist. Was ein Täter mit dieser Amoktat anrichten konnte, ist wirklich grauenvoll." Sie sei tief bewegt, sagte die Ministerin. Im Interview mit den tagesthemen bekräftigte Faeser ihre Pläne für ein verschärftes Waffenrecht. Man müsse nach den Schüssen von Hamburg schauen, ob der Entwurf noch ausreichend sei. In ihm werden halbautomatische Langwaffen verboten - der Täter in Hamburg hatte eine halbautomatische Pistole verwendet. Man müsse prüfen, ob auch solche Waffen verboten werden sollen, sagte Faeser den tagesthemen.
Grote: Dank an die Polizei
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bezeichnete die tödlichen Schüsse als brutale Gewalttat. "Schlimme Nachrichten aus #Hamburg. Mehrere Mitglieder einer Jehova-Gemeinde sind gestern Abend einer brutalen Gewalttat zum Opfer gefallen", postete er am Morgen über den Regierungsaccount auf Twitter. "Meine Gedanken sind bei ihnen und ihren Angehörigen. Und bei den Sicherheitskräften, die einen schweren Einsatz hinter sich haben." Hamburgs Innensenator Grote dankte den Einsatzkräften: "Mein ausdrücklicher Dank geht an die Polizei Hamburg, die sehr schnell vor Ort war und die diese extrem herausfordernde Lage hochprofessionell und umsichtig bewältigt hat." Ebenso dankte er der Feuerwehr für deren schnellen und beherzten Einsatz.
Zeugen Jehovas "tief betroffen"
Die Zeugen Jehovas zeigten sich nach den tödlichen Schüssen in einem Gebäude der Gemeinde in Hamburg "tief betroffen". "Unser tiefes Mitgefühl gilt den Familien der Opfer sowie den traumatisierten Augenzeugen. Die Seelsorger der örtlichen Gemeinde tun ihr Bestes, ihnen in dieser schweren Stunde Beistand zu leisten", hieß es in einem Statement auf der Website der Gemeinschaft. Michael Tsifidaris von den Zeugen Jehovas Altona bedankte sich für das beherzte Eingreifen der Polizei, die offensichtlich noch weiteres Blutvergießen verhindert habe. Man stehe mit zahlreichen Seelsorgenden und Gemeindehelferinnen und -Helfern zusammen, um Hilfe zu leisten. 36 Personen seien während der Tat im Gemeindezentrum anwesend gewesen, 26 waren seinen Angaben zufolge digital zugeschaltet.
Christliche Gemeinschaft mit eigener Bibel-Auslegung
Die Zeugen Jehovas sind eine christliche Gemeinschaft mit eigener Bibel-Auslegung, die sich strengen Vorschriften unterwerfen sollen. Die Anhänger glauben an Jehova als "allmächtigen Gott und Schöpfer". Sie sind davon überzeugt, dass eine apokalyptische Katastrophe bevorstehe und danach für gläubige Menschen auf der Erde paradiesische Zustände herrschen werden. Weltweit haben die Zeugen Jehovas etwa acht Millionen Mitglieder. Die "Weltzentrale" ist in New York. Die deutsche Gemeinschaft mit weniger als 200.000 Mitgliedern gehört zu den größten in Europa.