Der Blonde von Rio: Der brasilianische Kultmusiker Marcos Valle wird 80
Sechs Bühnenjahrzehnte über gelang es Marcos Valle, die brasilianische Musik in immer neue Formen zu gießen. Sein Lebenswerk ist gewaltig. Jetzt wird der Musiker 80 Jahre alt und ist immer noch allgegenwärtig.
Einerseits ist Marcos Valle eher eine "blonde Eminenz" der Musik Brasiliens, die unbemerkt im Hintergrund wirkt. Andererseits werden viele Freunde der brasilianischen Sounds bei Hits wie "Summer Samba", "Estrelar", oder "Nova Bossa Nova" denken: "Ah, der ist das!"
Wenn das Bühnenlicht Marcos Valles blonde Locken weiß leuchten lässt, sieht er fast etwas entrückt aus. Wie der gealterte Anführer eines Meditationskultes. Eine sanft wippende Grundentspannung weht von der Bühne. Marcos Valles Stimme raunt, wispert und zischt wie ein Perkussionsinstrument beim Konzert, Ende August in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel. So kann ein fast 80-Jähriger scheinbar mühelos die Wirkung seiner Songs entfesseln.
Unbeschwerter Start in Rio de Janeiro
Marcos Valle wird 1943 in eins der glücklichen Viertel Rio de Janeiros hineingeboren. Der Vater ist Anwalt, die Großmutter Pianistin, er lernt Beethoven und Brahms auf dem Klavier zu spielen und studiert die Musik des Brasilianers Heitor Villa-Lobos. In Papas Vinylsammlung faszinieren ihn der US-Jazz und die populäre brasilianische Musik. Mit Edu Lobo, dem späteren Bossa-Nova-Star, geht Marcos auf eine Schule, die beiden machen bald Musik zusammen. Antonio Carlos Jobim - der mit dem "Girl from Ipanema" - wird Nachbar der Valles. Die Abende verbringen die Teenager in den Häusern von Liedtextern wie Vinícius de Moraes, Komponisten wie Roberto Menescal oder großen Musikern der Zeit, wie dem Tamba Trio. "Ich kam ein paar Jahre, nachdem die Bossa Nova groß wurde, und ich bin mit Jobim, Carlos Lyra, Roberto Menescal zusammengekommen, mit all meinen Idolen. Sie haben mich so begeistert aufgenommen und versichert, dass ich gut war. Alles ging los, als ich noch sehr, sehr jung war", sagt Marcos Valle.
Die neue, neue Welle: Bossa Nova nova
Mit gerade 20 Jahren veröffentlicht er sein erstes Album "Samba Demais" es klingt farbiger als die Alben der ersten Generation Bossa Nova, Marcos Valle singt mit sanftem Bariton. Vielleicht wird hier schon spürbar, wie er diese Musik in den nächsten Jahren verändern wird. Beim Konzert in Hamburg fliegt er durch die vielen Musikfarben, die er in den letzten sechs Jahrzehnten als Produzent, Songschreiber, Musiker im Studio und auf der Bühne geschaffen hat. Der psychedelische Brasil-Pop der 1970er-Jahre, Soul R’n’B fließen in seine Musik ein, und schließlich kommen diese luftigen Tanz-Beats dazu, die heute noch fest zum Strandclub-Sound gehören.
Der Brazilectro Kult und das Café del Mar
Nach einer ruhigen Phase macht in den 1990er-Jahren die Chill-Out-Brazilectro-Mode Marcos Valle wieder populär. Allerdings: Besonders in Europa und den USA. Auch beim ausverkauften Konzert in Hamburg macht sich die brasilianische Community rar. "Die Künstler seiner Generation wie Roberto Gil und Caetano Veloso sind Brasilien viel bekannter." Sagt der der Hamburger DJ und Portugiesischdozent Júlio Matias. "In Brasilien war er eher im Hintergrund, er hat komponiert, er hat mit anderen gespielt, und das auch eher in den 1980er-Jahren." Als Marcos Valle in Europa mit der Café-del-Mar-Welle ganz nach oben geliftet wird, tanzt man in Brasilien schon zu Baile-Funk, dem Hip-Hop der Favelas. Die Erinnerung an die Bossa Nova als einstiges Nationalheiligtum hat längst Risse bekommen.
Wer erfand die Bossa Nova?
Für einen schwarzen DJ wie Júlio hat die einstige Kulturbewegung etwas zwiespältiges: "Die Geschichte von vielen schwarzen Menschen, die zur Bossa Nova beigetragen haben, ist völlig vergessen." Niemand kenne zum Beispiel Johnny Alf, der sehr wichtig für die Bossa Nova gewesen sei, aber hinter Tom Jobim oder João Gilberto kaum in Erscheinung trat. Mit "Copacabana Brasil” nahm Johnny Alf 1955 das erste Bossa Nova Album auf. Bis heute kennen es nur echte Fans des Genres. "Für mich als DJ ist schlüssig, der Musik schwarzer Künstler Sichtbarkeit zu geben." Sagt Júlio, bei seinen Sets legt er schwarze Künstler auf, singt bei Marcos Valle auf Kampnagel aber dennoch alle Songs mit. "Trotz der Ungerechtigkeit in Brasilien, schaffen wir in der Musik die Utopie, dass wir alle gleich sind, dass wir alle Freude haben und das vereint uns."
Brasilsound in den USA: Von Sarah Vaughan zu Leon Ware
Die Wurzeln von Soul, Samba, R’n’B seien eines: schwarz. Sagt Marcos Valle schon in den späten 1960er-Jahren. Er lernt Quincy Jones kennen, spielt die ersten Konzerte in den USA und arrangiert schließlich für die einzigartige Sarah Vaughan. Aus "Something" von George Harrisson wird ein Brasil-Jazz-Radiohit. Beinahe zitternd vor Aufregung singt Marcos Valle damals im Studio, aus dem einen brasilianisierten Song werden schließlich viele. Bei "Rockin’ You Eternally" - dem 1979er-Jahre Album von Leon Ware muss man die Credits schon genau lesen, um den Namen Marcos Valle zu entziffern. Leon Ware war die rechten Hand von Marvin Gaye, ein Jugendheld des Brasilianers. "Ich war der einzige Weiße im Studio mit diesem fantastischen Orchester, und die anderen meinten, als Musiker bist du nicht weiß. Es ist so einzigartig, wenn die Streicher im Soul spielen. Soul war einer meiner wichtigsten Einflüsse. Ich liebte Marvin Gaye, und jetzt die Produktion mit Leon Ware, ich liebe diese Zeit, diese Arbeit", erinnert sich Marcos Valle.
Wie wenigen Musikern ist es Marcos Valle gelungen, die DNA seines Stils beizubehalten, ohne nostalgisch oder gestrig zu wirken. Noch 2019 nahm er mit "Sempre" ein großes Album auf. Hier trifft sein Flüsterstyle den Acid Jazz der 1980er-Jahre. 2020 holte Adriane Younge (Black Dynamite, Kendrick Lamar) Valle für seine "Jazz Is Dead" Reihe ins Studio, nicht der einzige HipHop Produzent, der sich um Marcos Valles Sounds reißt. Zuletzt war Marcos Valle nur zu den ganz runden Geburtstagen auf Europa-Tour, hoffentlich macht er zum 85. eine Ausnahme.