Verteidigung der Dunkelheit - Ein Lob der Nacht und ihrer Gestalten
Man hat den Eindruck, dass es finsterer wird in der Welt. Deshalb ist es höchste Zeit für eine Ehrenrettung der Dunkelheit und eine kleine Kulturbetrachtung der Nacht, findet Christiane Peitz in ihrem Essay.
Die Nacht ist zurückgekehrt, könnte man meinen, die Welt hat sich verdüstert. Nicht nur metaphorisch wegen des Kriegs und der Krisen, sondern auch im wörtlichen Sinne. In den Städten ist es dunkler geworden; auf Grund der hohen Energiekosten wird die Straßenbeleuchtung vielerorts reduziert. Schloss Neuschwanstein, die Silhouette von Dresdens Elbpromenade oder der Hamburger Michel liegen neuerdings nachts im Dunkeln, allein in Berlin werden 200 öffentliche Gebäude und Sehenswürdigkeiten nicht oder kaum mehr angestrahlt. Während Kiew und andere ukrainische Städte wegen der russischen Luftangriffe die Straßenlaternen ausschalten und den Bewohnern die nächtliche Verdunkelung der Fenster empfehlen, dimmt auch Deutschland sich herunter. Selbst wenn damit nur wenig Strom gespart werden kann.
Das hat hierzulande eine Debatte über die Sicherheit im öffentlichen Raum oder zuletzt auch über die trostspendende Funktion von Weihnachts-Lichterketten ausgelöst. Gleichzeitig rückt es die Nacht selbst in den Fokus, diese "unterschätzte Hälfte des Tages", wie das Magazin "Brand Eins" vor einigen Monaten titelte. Zeit für eine kleine Kulturbetrachtung der Nacht.
Wir kommen aus der Dunkelheit
Zunächst einmal gilt die Überwindung der bedrohlichen Finsternis als Inbegriff der Moderne, vom Siegeszug der Gaslaterne über die Elektrifizierung der Sowjetunion bis zur Lichtarchitektur der 1920er-Jahre. Die Weimarer Republik mit ihren Neonreklamen und später die Lichtdome der Nazis illuminierten die Nacht. Die Stadt, die nie schläft - bis heute definiert sich eine anständige Metropole nicht zuletzt über ihr Nachtleben. Megacitys wie Seoul oder Los Angeles lassen sich nachts gut vom Weltall aus erkennen. 99 Prozent aller Europäer leben unter einem lichtverschmutzen Himmel.
Gleichzeitig gilt aber auch, dass wir aus der Dunkelheit kommen, aus der Leere, der ewigen Nacht. "Es werde Licht", so beginnt die biblische Schöpfungsgeschichte. In den meisten Welterschaffungsmythen ist das nicht anders. Die griechische Göttin Nyx entsteigt als eine der ersten dem Urchaos, mit ihrem Bruder Erebos, dem Gott der Finsternis. Zu den Kindern der Nacht gehören Eros und Thanatos, die Liebe und der Tod, der Schlaf, die Träume, aber auch das Verhängnis, die Sorgen, die Rache. In der Nacht lauern die Dämonen, wir fürchten uns in der Dunkelheit. Das Zeitalter der Aufklärung feierte das Licht der Vernunft als Allheilmittel gegen die Mächte des Bösen. Wobei die Vertreibung der Nacht in einer "vollends aufgeklärten Erde" in "triumphales Unheil" mündete, wie Theodor Adorno und Max Horkheimer es in ihrer Epochenschrift "Die Dialektik der Aufklärung" formulierten - mit Blick auf die Weltkriege und den Holocaust. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, die immer wache Vernunft hat ebenfalls verheerende Folgen.
Die paradoxe Rolle der Nacht
Der Mensch ist ein Tagtier, das die Nacht zum Leben braucht. Nicht nur, um die Arbeitskraft im Schlaf zu regenerieren oder unterm Sternenhimmel ins Träumen zu geraten. Die Nacht ist Schreckensszenario und Schutzraum zugleich, Hort der Bedrohung und der Befriedung, der Sehnsüchte und Nachtmahre, der Gedankenfreiheit wie der Gesetzlosigkeit, der Versprechen wie der Verbrechen, des Begehrens wie der Gewalt. Dieses unauflösliche Paradox gehört zu ihrem Wesen. Abseits der Tagesgeschäfte können wir uns im Möglichkeitsraum der Nacht dem magischen Denken stellen, dem gar nicht so kleinen irrationalen Rest in jedem von uns.
Oder dem Verdrängten, um es mit Sigmund Freud zu sagen. Kein Zufall jedenfalls, dass die Romantik als Hoch-Zeit der Nachtgestalten und zwielichtigen Doppelgänger auf die Ära der Aufklärung folgte. Schon Mozarts "Zauberflöte" als Aufklärungs-Oper schlechthin erklärt die Königin der Nacht zur Gegenspielerin des Sonnenpriesters Sarastro und schreibt ihr die verwegensten Koloraturen zu, die allerhöchsten Töne. Wer nach den Sternen greift, muss sie zunächst einmal sehen können. Das geht nur, wenn die Erde sich von der Sonne weggedreht hat.
Die Kulturgeschichte der Nacht
Die in Zürich lehrende Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen erkundet in ihrer profunden Kulturgeschichte der Nacht mit dem Titel "Tiefer als der Tag gedacht" jene blinden Flecke der Vernunft. Gerade die Künste widmen sich jenem "Stück Nacht, das jeder von uns in sich trägt", wie Charles Foucault geschrieben hat. Arnold Böcklins und Moritz von Schwinds Bilder der Nacht als verschleierte Frau mit weitem Mantel; die Kerzenlichtgemälde und das Chiaroscuro von Rembrandt, Caravaggio und Goya; Novalis' "Fragmente der Nacht", E.T.A Hoffmanns "Sandmann", die Schauerliteratur, die Nocturnes von Chopin - die Liste ist endlos. Noch die Figur der "Femme fatale" im Film noir spielt mit den Ambivalenzen der Dunkelheit. Immer wieder geht es in Bronfens Buch darum, wie das Vertraute, das Heimische in etwas Unheimliches umschlägt. In der Nacht nimmt das Abgespaltene Gestalt an, wahnhaft, halluzinatorisch, verführerisch. Angst, Lust und Trost sind miteinander verwoben.
Die Nacht erlaubt das Gespräch mit den Toten. Im Schutz der Nacht kann die verbotene Liebe gelebt werden, abseits von Tabus und Moral. Romeo und Julia finden Zuflucht bei ihr, ebenso (die Paare in Shakespeares "Sommernachtstraum" oder) Tristan und Isolde, wenn in Wagners Oper die Nacht der Liebe herniedersinkt. Die Nacht ist ein Weichzeichner, sie lässt die Konturen verschwimmen. Der Tristan-Akkord, die berühmte übermäßige Quart, bleibt unaufgelöst. Was wäre die musikalische Moderne ohne diese teuflisch glühende Dissonanz.
Der Starpianist Igor Levit hat kürzlich ein "Tristan"-Album herausgebracht, mit einer Klavierbearbeitung des Opern-Vorspiels, aber auch mit Hans Werner Henzes gleichnamigem Orchesterwerk: traumverlorene, radikal intime, fragende Musik. Der risikofreudige Pianist widmet sich nicht erst seit Beginn der Pandemie existentiellen Sujets, befasst sich mit Tod und Revolution, mit der Liebe und eben der Nacht. Ernst und nachdenklich blickt Levit vom verschatteten Cover-Foto.
Im Dunkeln steigt die Kreativität
Dass gerade die Künste ihren Ursprung in der Nacht haben, lässt sich wissenschaftlich belegen. Die Stuttgarter Psychologin Anna Steidle hat schon 2012 in einer Studie herausgefunden, dass Testpersonen bei schummrigem Licht zwar weniger analytisch denken als solche, die bei hohen Lux-Werten arbeiten, dafür aber kreativer sind. Sie malen ausgefallenere Bilder, denken eher um die Ecke, wähnen sich freier, weil sie sich unbeobachtet fühlen. Zur Kunst gehören Konzentration und Kontrollverlust; schön jedenfalls, dass Kulturveranstaltungen in der Regel erst nach dem Tagwerk stattfinden. Wer ins Theater, ins Konzert oder ins Kino geht, tut dies am Abend, und bevor der Vorhang sich hebt, bevor der erste Ton erklingt, wird das Saallicht gelöscht.
Das sollten sich all jene gesagt sein lassen, die die Nacht ökonomisieren wollen. Das eingangs erwähnte Wirtschaftsmagazin "Brand eins" widmete 2022 eine komplette Ausgabe der Zeit zwischen Sonnenaufgang und -untergang. Deren politisches Potenzial ist von Koalitionsverhandlungen bis in die frühen Morgenstunden hinlänglich bekannt, Zermürbungstaktik inklusive.
Wenn die Nacht zum Tag wird
Was das ökonomische Potenzial betrifft, weitet sich das Prinzip "Späti" allemal aus. In London werden Nachtwirtschaftszonen gefördert, weltweit sollen sich bereits 40 Orte auf dem Weg zur 24-Stunden-Stadt befinden. Bars und Clubs werden zu Keimzellen der Night Time Economy und der Smart City mit digital intelligenter Straßenbeleuchtung. Sportstudios und Supermärkte haben bis spät am Abend geöffnet. In Deutschland war Mannheim der erste Ort, der deshalb bereits 2018 einen Nachtbürgermeister ernannte. Länder wie Österreich oder die Schweiz haben die wieder zunehmende Attraktivität des Schlafwagen-Reisens erkannt.
Wer die Nacht zum Tage macht, läuft jedoch Gefahr, ihr Geheimnis und ihren Wert fürs Seelenleben zu zerstören. "Die Nacht ist still und sanft, eine Zeit des Schweigens und Berührens", schreibt der Schriftsteller Wladimir Kaminer in "Brand eins". Und weiter: "Nachts fällt uns die soziale Kommunikation leichter, die Menschen sehen besser aus und können die feinen Unterschiede erkennen. Realität findet am Tage statt, die Wirklichkeit kommt nur nachts zum Vorschein."
Da kann es nicht schaden, dass es derzeit wieder etwas dunkler wird um uns herum, wenn auch nur wegen der Energiekosten. Mit dem Geschäftemachen möge die Nacht noch ein wenig warten. Der Blutdruck sinkt, die Muskelspannung löst sich, der Mond geht auf: Wer sich den Mächten der Nacht überlässt, begreift sich und die Welt nach dem Aufwachen ein klein wenig besser.