Über 1.300 Tote beim Hadsch: Ist die Pilgerreise noch zeitgemäß?
Es gehört zu den Pflichten der Muslim*innen, einmal im Leben nach Mekka zu pilgern. Aber immer wieder kommen beim Hadsch Menschen zu Tode - in diesem Jahr waren es über 1.300 Pilger*innen. Müsste die alte Tradition überdacht werden?
Schon als kleines Kind lernte ich in der Kleinstadt an der türkischen Westküste, dass der Hadsch religiöse Pflicht von Muslimen ist. Bei Besuchen mit meinen Eltern in der Nachbarschaft lauschte ich gespannt den alten Menschen, die von ihrer Pilgerreise in die Heilige Stadt Mekka berichteten. Später, als Schülerin in Deutschland, lernte ich im Koranunterricht, dass der Hadsch eine der fünf Säulen des Islams ist, lernte aber nicht, das Gelernte zu hinterfragen. Die Pflicht zur Wallfahrt nach Mekka steht im Koran. In der Sure 2, Vers 97 heißt es:
"Es ist von Gott den Menschen aufgetragen, zum Haus die Pilgerfahrt zu vollziehen - wer einen Weg dorthin zu finden in der Lage ist." Aus dem Koran
Was genau bedeutet die Formulierung, "in der Lage" sein im Zusammenhang mit dem Hadsch? Ab wann ist man in der Lage und ab wann nicht mehr - für die mehrtägige Reise mit etlichen körperlich anstrengenden Ritualen vor Ort? Kann man den Hadsch gesundheitlich bewältigen? Verkraftet man die Strapazen der Reise und die Rituale vor Ort - nicht selten bei extrem hohen Temperaturen? Diese Fragen stellen sich fromme Muslime ob ihres Pflichtbewusstseins gegenüber Gott nach meinem Wissen leider zu wenig.
Familien sparen jahrelang für diese Pilgerreise
Auch wenn es immer wieder heißt, dass man nicht nur finanziell, sondern auch emotional und körperlich in der Lage sein sollte, nach Mekka zu pilgern - viele setzen den Akzent auf das erstere. Man leistet sich dieses oder jenes nicht und verzichtet zuhause sogar auf erforderliche Anschaffungen, spart über viele Jahre Geld, um die Wallfahrt machen zu können. Und so pilgern meist Ältere und Hochbetagte von überall her nach Mekka, wo sich die Kaaba - das wichtigste Heiligtum des Islam - befindet. In diesem Jahr waren es fast zwei Millionen. Das sind rund zehn Prozent der zwei Milliarden Muslime weltweit. Und jedes Jahr kommen Pilger in Mekka um. Bei der diesjährigen Wallfahrt waren es nach offiziellen Angaben 1301 Menschen. Ähnlich viele Menschen starben in Folge einer Massenpanik vor neun Jahren. Und 1990 wurden in einem überfüllten Fußgängertunnel 1426 Menschen totgetrampelt.
Kritik an der Organisation
Die Reaktionen auf die jüngste Tragödie in Mekka fallen unterschiedlich aus. Es seien trotz der Hitze nicht genug Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden, heißt es. Die vielen Hitzetoten wären vermeidbar gewesen, wenn Saudi-Arabien die Wallfahrt besser organisiert hätte, lautet eine weitere Kritik. Andere schieben die Schuld auf Reiseveranstalter, die die Wallfahrt zum Geschäftsmodell gemacht haben, die Tour nach Mekka als Pauschalreise anbieten. Sie würden die Pilger nicht ausreichend auf das vorbereiten, was sie vor Ort erwarte.
"Wir sollten den Sinn dieser Pflicht hinterfragen"
Kaum jemand traut sich - schon gar nicht öffentlich - das zu hinterfragen, was mir als erstes in den Sinn kam, als ich die Nachricht vernahm: ob es nicht an der Zeit ist, diese religiöse Pflicht in Frage zu stellen. Welchen Sinn hat heute ein Gebot, das zu einer Zeit entstand, in der Menschen zu Fuß unterwegs waren und längere Strecken, wenn überhaupt, mit Esel oder Pferd zurücklegten? In der heutigen Zeit, in der man in wenigen Flugstunden von A nach B gelangen kann, sind Menschenansammlungen unvermeidbar. Und damit womöglich auch, dass Gläubige in Mekka umkommen - sei es bei einer Massenpanik, sei es durch Hitze, oder weil ärztliche Helfer nicht rechtzeitig vor Ort sein können. Mit dem Klimawandel wird sich die Situation verschlimmern. Es ist an der Zeit, den Sinn dieser vermeintlichen Pflicht zu hinterfragen. Will Gott wirklich diese Art der Glaubensbekundung? Mein Gott nicht! Er ist ein barmherziger - und kein strafender. Er will nicht um jeden Preis verherrlicht werden!
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