Stand: 15.11.2018 12:41 Uhr

"Gerechtigkeit ist eine Kernbotschaft des Koran"

von Mouhanad Khorchide

Gerechtigkeit ist einer der zentralen Werte unserer Gesellschaft. Auch in Koran und Sunna, den heiligen Schriften des Islam, spielt das Streben nach Gerechtigkeit eine wichtige Rolle. Ganz anders im Alltag der meisten islamisch geprägten Länder. Da gibt es noch viel Luft nach oben, meint unser Gastautor Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Wilhelms-Universität Münster.

Mouhanad Khorchide im Porträt. © Mouhanad Khorchide
Mouhanad Khorchide setzt sich für einen, wie er sagt, aufgeklärten Islam ein. Denn er ist überzeugt: Islam und Moderne müssen keine Gegensätze sein.

Der Koran erklärt in der Sure 57, Vers 25, dass Gerechtigkeit die Kernbotschaft der Verkündigung aller Propheten sei. Alle Propheten seien mit einer Waage entsandt worden, heißt es darin. Die Waage wird hier als Symbol der Gerechtigkeit aufgeführt. An einer anderen Stelle gebietet der Koran Gerechtigkeit bei der Zeugenschaft, auch wenn dies zum eigenen Nachteil oder zum Nachteil der eigenen Verwandtschaft wäre: "Ihr, die ihr glaubt, steht für die Gerechtigkeit ein als Zeugen für Gott, auch wenn es gegen euch selbst wäre oder gegen die Eltern und Angehörigen" (Koran 4:135). Im Koran begegnen einem viele solcher Stellen, die zur Gerechtigkeit rufen.

Ein univeselles Gebot für alle Menschen

Das eigentliche Problem liegt dabei allerdings in der Praxis, denn während der Koran zum Beispiel Gerechtigkeit als universales Gebot für alle Menschen unterstreicht - zum Beispiel in Sure 4, Vers 58, wo es heißt: "Wenn ihr zwischen den Menschen richtet, dann sorgt dabei für Gerechtigkeit" -, vermissen wir diese gerechte Haltung in einigen Fragen, wenn es um Rechte von Nicht-Muslimen geht. Zum Beispiel ist es in vielen islamisch geprägten Ländern noch immer keine Selbstverständlichkeit, dass nicht-muslimische Minderheiten ihre Religion frei ausüben dürfen. Aber zur Gerechtigkeit gehört, dass Muslime sich nicht nur für den Bau von Moscheen in nicht-islamisch geprägten Ländern oder für die Einführung des islamischen Religionsunterrichts in diesen Ländern einsetzen, sondern aus Prinzip genauso auch für solche Freiheiten nicht-muslimischer Minderheiten in den islamisch geprägten Ländern.

Über den Autor

Mouhanad Khorchide, geboren 1971 im Libanon, ist Leiter des Zentrums für Islamische Theologie und Professor für Islamische Religionspädagogik an der Wilhelms-Universität Münster. Er gilt als einer der wichtigsten Vertreter eines zeitgenössischen, liberalen Islam im deutschsprachigen Raum.
Bekannt wurde er u.a. als Autor des Buches "Islam ist Barmherzigkeit: Grundzüge einer modernen Religion" (Herder 2012).

Mehr Gerechtigkeit im Alltagsleben der Muslime umsetzen

Eine weitere offene Frage betrifft die theologische Reflexion der Gerechtigkeit Gottes: Ist Gott nur Muslimen gegenüber gnädig, wie nicht wenige muslimische Gelehrte behaupten, oder ist er ein gerechter Gott, der allen Menschen gnädig zugewandt ist? Haben alle Menschen die gleichen Chancen auf die ewige Glückseligkeit, oder selektiert hier Gott ausgehend von Überschriften wie "Muslim“, "Christ“ oder "Agnostiker"? Die Rede von einem gerechten Gott impliziert, dass sich dieser Gott von niemandem vereinnahmen lässt. Er ist Gott aller Menschen.

Wir erleben in vielen islamisch geprägten Ländern, dass die Religion gerade für die Legitimierung diktatorischer Regime instrumentalisiert wird. Und gerade hier vermisst man sehr oft die Anwendung von Gerechtigkeit in der gelebten Praxis. Man denke nicht nur an die fehlenden Rechte von religiösen Minderheiten, sondern auch an die von Frauen, in manchen Ländern auch an die von Kindern. Daher reicht es nicht, die koranischen Zitate hervorzuheben. Sie müssen im Alltagsleben der Muslime umgesetzt werden, und das wiederum ist eine Frage der Gerechtigkeitsbildung, die jedoch gerade diktatorische Regime nicht wirklich interessiert.

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Mouhanad Khorchide © WWU / Peter Grewer
4 Min

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Um Gerechtigkeit geht es in der ARD-Themenwoche. Welche Bedeutung hat sie in islamisch geprägten Ländern? Das fragt sich auch Mouhanad Khorchide. 4 Min

Ein aufgeklärter Islam - bisher noch die Ausnahme in vielen Ländern

Denn ein aufgeklärter Islam, der von Werten der Würde, der Freiheit, der Gerechtigkeit spricht, ist vielen solcher Staaten ein Dorn im Auge. Sie unterstützen lieber einen Islam der Unterwerfung, um eine Mentalität der Gehorsamkeit gegenüber Autoritäten zu etablieren. Und gerade solche Regime, die nicht selten säkular sind und sich für Religion nur als Instrument der Repression interessieren, verhindern den Anschluss der Muslime an ihre eigene Geschichte, an jene Zeit, als sie im Mittelalter in Spanien eine Hochkultur waren.

Impulse von Muslimen aus Europa ?

Aber auch religiöse Autoritäten, die ihre eigene Machtstellung im Volk sichern wollen, setzen sich für einen Islam der Unterwerfung ein und nicht für einen Islam der Selbstbestimmung des Menschen. Es bleibt dennoch die Hoffnung, dass gerade von Muslimen in Europa, die hier viel mehr Gerechtigkeit erfahren und religiöse Freiheiten genießen dürfen als in sehr vielen islamisch geprägten Ländern, Impulse der Veränderung und der Gerechtigkeit in die islamische Welt ausgehen werden.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Freitagsforum | 16.11.2018 | 15:20 Uhr

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