Der einseitige Blick auf Israel: Antisemitismus unter Muslimen
Der Islamwissenschaftler Michael Kiefer fordert pädagogische Präventionsprogramme für Schülerinnen und Schüler.
Heute besucht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Deutschland. Nach Lage der Dinge werden nicht nur freundliche Worte ausgetauscht. Denn Erdogan lobt die Hamas und tituliert diese als eine - so wörtlich - "Befreiungsorganisation" Erdogan stellte zuletzt sogar das Existenzrecht Israels in Frage. Damit bewegt er sich in einem eindeutig antisemitischen Fahrwasser. Es ist zu befürchten, dass Erdogan aus der türkeistämmigen Community hierzulande Beifall erhält.
Netzwerke machen sich Protest zu eigen
Um es direkt klarzustellen: Antisemitisch gesonnene Muslime stellen in den heterogenen muslimischen Gemeinschaften in Deutschland eine Minderheit dar. Jedoch ist diese derzeit sehr laut. Dies zeigen zahlreiche Äußerungen auf propalästinensischen Demonstrationen und in den sozialen Medien. Die islamistischen Akteursgruppen, die in den vergangenen vier Wochen in Erscheinung getreten sind, sind nicht neu. Es sind vor allem Netzwerke aus dem Kontext der in Deutschland verbotenen Hizb ut-Tahrir ("Partei der Befreiung"), die den Protest zu orchestrieren versuchen.
Verschwörungserzählungen als Grundlage
Die Hizb ut-Tahrir vertreten einen Antisemitismus, der seit mehr als sechs Jahrzehnten vor allem in arabischen Staaten proklamiert wird. Es handelt sich um eine Collage aus Verschwörungserzählungen und Rückbezügen auf Koran und Sunna. Einer der maßgeblichen Autoren war der ägyptische Muslimbruder Sayyd Qutb, der bereits in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Schrift "Unser Kampf mit den Juden" verfasste. Dieser Antisemitismus prägte auch in einem hohen Maße die politische Agenda der Hamas. Deutlich sichtbar wird dies in der Charta der Hamas aus dem Jahr 1987, die sich unter anderem auf das üble antisemitische Pamphlet "Die Protokolle der Weisen von Zion" bezieht.
Antisemitische Erzählungen schon unter Jugendlichen
Antisemitische Narrative waren und sind in vielen islamisch geprägten Ländern weit verbreitet. Sie stellen ein vermeintlich probates Erklärungsmuster dar, mit dem sich der Verlauf des Palästinakonflikts scheinbar deuten und erklären lässt. Leider spielen diese Narrative auch bei in Deutschland lebenden Muslimen eine Rolle. Empfänglich für antisemitische Deutungsmuster sind in einem besonderen Maße auch Jugendliche. Genau hier besteht schon seit längerer Zeit eine manifeste Problemlage, die endlich Schule, Jugendhilfe und Moscheegemeinden auf den Plan rufen sollte.
Social-Media als einzige Nachrichtenquelle
Viele in Deutschland lebende junge Muslime beziehen Ihre Informationen zum aktuellen Kriegsgeschehen nahezu ausschließlich aus Tiktok-, Instagram- und Telegramkanälen. Zu einer kritischen Einordnung dieser Informationen sind sie zumeist nicht in der Lage. Sie verfügen häufig über kein historisches Hintergrundwissen zum Nahost-Konflikt. Und fundiertes Wissen zur deutschen Geschichte? Fehlanzeige! Vor zwei Monaten hielt ich einen Vortrag zum Thema Antisemitismus vor rund vierzig überwiegend syrischen Jugendlichen, die um das Jahr 2015 nach Deutschland kamen. Fast alle hatten ihre Schullaufbahn vollständig in Deutschland absolviert. Wissen über die NS-Zeit gab es nur rudimentär. Die Begriffe Shoah und Holocaust waren gänzlich unbekannt.
Reicht unser Geschichtsunterricht aus?
Die Auseinandersetzung in deutschen Schulen mit dem Thema Antisemitismus findet zumeist im Geschichtsunterricht statt. Doch reichen ein bis zwei Wochenstunden für eine umfassende Wissensvermittlung? Hinzu kommt, dass in manchen Jahrgangsstufen das Fach Geschichte nur halbjährig unterrichtet wird. Erschwerend hinzu kommt, dass die Behandlung des Antisemitismus mit dem Jahr 1945 häufig endet. Mehr als ein halbes Jahrhundert Nahost-Konflikt - Genese, Verlauf und Auswirkungen kommen nicht vor. Wenn schlimmstenfalls zu wenig Wissen über die Shoah und zum Verlauf des Nahost-Konflikts vorhanden ist, gibt es kein Korrektiv gegen einfache antisemitische Erklärungen. Folglich gibt es auch nicht die Möglichkeit zu einem Perspektivenwechsel, der die Nöte und Ängste aller Beteiligten in diesem Konflikt sichtbar machen kann.
Wir müssen jetzt handeln!
Wir müssen diese schwierigen Themen jetzt angehen. Dies bedeutet: Wir brauchen überarbeitete Lehrpläne in den Schulen, eine Lehrkraftausbildung, die die aufgeführten Themen angemessen bearbeitet, Präventionsprogramme gegen Antisemitismus und Rassismus. Und wir benötigen Schulbücher und Unterrichtsmaterialien, die auf der Höhe der Zeit sind und alle Perspektiven angemessen beachten. Und die Moscheegemeinden? Die Kinder- und Jugendarbeit beschränkt sich hauptsächlich auf die Katechese. Antisemitische Narrative und deren islamische Rückbezüge werden kaum oder gar nicht kritisch thematisiert. Handlungsbedarf besteht folglich auch hier.
Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.