Stand: 31.05.2019 15:18 Uhr

30 Jahre Alevitische Gemeinde in Deutschland

von Mechthild Klein

Das Alevitentum aus der Türkei ist eine Religion, die zum islamischen Kulturkreis zählt. Aber die Aleviten pflegen im Gegensatz zu den Sunniten ihre eigenen Traditionen, haben eigene Erzählungen und Schriften mit vielen mystischen Elementen aus dem Sufismus. Deshalb wurden ihre Anhänger im Osmanischen Reich und der türkischen Republik immer wieder als Häretiker verfolgt oder benachteiligt. Auch in Deutschland gibt es alevitische Gemeinden. Mechthild Klein war bei wissenschaftlichen Symposium der Universität Hamburg dabei.

Handan Aksünger steht vor einer Tafel © Handan Aksünger
Handan Aksünger-Kizil wurde 2015 an den weltweit ersten Lehrstuhl für das Alevitentum der Universität Hamburg berufen.

Vor 30 Jahren gründete sich der erste selbstverwaltete Dachverband der Aleviten in Deutschland. Anlass für die Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg zu einem Symposium einzuladen. Darunter auch Handan Aksünger-Kizil. Sie wurde 2015 an den weltweit ersten Lehrstuhl für das Alevitentum der Universität Hamburg berufen. Aksünger hatte es noch als Kind erlebt, dass ihre Eltern ihr ihre alevitische Herkunft verheimlichten, aus Angst vor Diskriminierung. Inzwischen haben die Aleviten erfahren, dass sie in Deutschland ihren Glauben frei leben können, sagt sie. "Diese Selbstorganisation explizit als Aleviten nach Außen zu kommen, darüber ohne Angst zu sprechen, ist in erster Linie eine deutsche Geschichte, und das ist dann zu einer europäischen Geschichte geworden."

Die Aleviten

Die Glaubensgemeinschaft der Aleviten entwickelte sich im 13. und 14. Jahrhundert in Anatolien aus dem schiitischen Zweig des Islam. Sie treten für Toleranz und die Gleichstellung der Geschlechter ein. Vom türkischen Staat werden sie bis heute diskriminiert.

Eigene Interpretation des Glaubens

Mittlerweile ist die Forscherin von Hamburg an die Universität Wien gewechselt. Die Aleviten, sagt sie, hätten sich emanzipiert. Sie zeigten offen ihre Religionszugehörigkeit und seien gut integriert in der deutschen Gesellschaft. Das Alevitentum zu erforschen ist Aksünger-Kizil neben der Ausbildung von Religionslehrern ein weiteres Anliegen. Bis vor ein paar Jahrzehnten gab es kaum wissenschaftliche Bücher über diese Religion. Denn die Traditionen wurden nur heimlich weitergegeben. In den Lehren wird immer wieder die Vernunft und das eigene Interpretieren des Glaubens betont. Man hält nichts von einem dogmatisch verordneten Glauben. Beispielsweise lehnen Aleviten die fünf Säulen des Islams, darunter die Pilgerfahrt nach Mekka und das Ramadan-Fasten ab. Auch die Andachten fanden im Verborgenen statt. Cem heißt das Ritual. "Das ist die zentrale Gottesandacht in der alevitischen Tradition oder in der gelebten alevitischen Gemeinde, die zu verschiedenen Zeiten durchgeführt wird. In der Regel war das Donnerstag nachts. Es werden so eine Art Konfliktlösungen durchgeführt, es wird gemeinsam gespeist, gebetet, und ganz am Ende gibt es den Semah, der spirituell-religiöse Gang, der eine Art Einheit mit Gott darstellt."

Die Alevitische Gemeinde in Hamburg versammelt sich zum cem. © Alevitische Gemeinde Hamburg
Das Wort cem bedeutet soviel wie "Gemeinschaft, Zusammenkunft, Versammlung". Männer und Frauen nehmen gemeinsam daran teil.
Vielfältige Geschichte des Alevitentums

Cem, die Gottesandacht, findet heute nicht mehr im Geheimen statt. Als Aleviten aus Anatolien nach Europa immigrierten, habe man sich nach und nach getraut, Gemeinden zu bilden. Die Wissenschaftler haben in diesen neuen Gemeinden Feldforschung betrieben und Kontakte aufgebaut. Inzwischen sind große Teile der Überlieferung gesichtet, Erzählungen und Schriften zusammengetragen. Die Aleviten begrüßen es, dass ihre Religion erkundet wird, sagt der Direktor des Orientinstituts in Istanbul, Islamwissenschaftler Raoul Motika. "Unsere Forschung hat ergeben, dass die Geschichte des Alevitentums vielfältiger ist, als es die Aleviten selber von ihren Eltern und Großeltern erfahren haben, weil die in ihrem jeweiligen dörflichen oder ländlichen Kontext eine bestimmte Form des Alevitentums erlebt haben, die sie als beispielhaft für alle Aleviten ansehen."

Bis heute sind sich die Aleviten uneinig, ob sie sich zu den Muslimen zählen oder nicht. Für viele Aleviten steht zumindest der Koran nicht im Zentrum des Glaubens. Das ist abhängig vom politischen Rahmen, vom Land in dem sie leben.

Handan Aksünger steht vor einer Tafel © Handan Aksünger
AUDIO: 30 Jahre Alevitische Gemeinde in Deutschland (5 Min)

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Freitagsforum | 31.05.2019 | 15:20 Uhr

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