Rachmaninow: Chormusik wie ein Ultra-Trail-Lauf
"Ich habe kürzlich eine Doku über einen Ultra-Trail-Lauf in den Bergen gesehen und habe ich mir gedacht: Das ist wie Rachmaninow aufführen," sagt Dirigent Florian Helgath.
Kontemplative Extremerfahrung - auch in der Musik
In vielen Kulturen und Glaubensrichtungen ist ein Abendritual gelebte Tradition. Vor allem zu wichtigen Anlässen wie Hochfesten gewinnt der Brauch an Bedeutung. Dann preisen die Gläubigen gemeinsam im Abend- und im Morgenlob Gottes Werk und zelebrieren den Beginn des nächsten Tages, der mit der Auferstehung Jesu assoziiert wird. Tief beeindruckt von den Kirchenritualen, die er gemeinsam mit seiner Großmutter als Kind miterlebt hatte, schrieb Sergej Rachmaninow 1915 seine etwa 70-minütige Adaption für den Konzertsaal. "Seine 'Ganznächtliche Vigil' ist inspiriert von der Tradition des großen Abend- und Morgenlobs in der orthodoxen Kirche. Am Abend vor einem Hochfest wird gebetet - die ganze Nacht hindurch, im Stehen und ohne zu schlafen", sagt Helgath. Das sei eine Extremerfahrung - ähnlich einem Ultra-Trail-Lauf in den Bergen, fügt er hinzu.
"Die letzte Nummer der 'Ganznächtlichen Vigil' ist relativ kurz, aber unglaublich freudig, groß und laut. Es ist der pure Lobpreis, es drückt aus: 'Wir haben’s geschafft! Jetzt laufen wir über die Ziellinie!' Das spürt man in der Musik - und hoffentlich auch in der Art, wie wir es singen." Die "Ganznächtliche Vigil" op. 37 haben Florian Helgath und das Chorwerk Ruhr 2023 einstudiert und anlässlich des Jubiläums, dem Jahr des 150. Geburtstags und des 80. Todestags von Sergej Rachmaninow, in der Zeche Zollern, einer Jugendstil-Maschinenhalle, erstmals aufgeführt. Anschließend haben sie die Vesper auf CD aufgenommen.
Kirchenklänge für den Konzertsaal
Florian Helgath und sein Kammerchor haben dabei ein ausgesprochen feines Klangbild geschaffen: prachtvoll-üppig an den Stellen, die es benötigen, dabei immer transparent, die Grenzen auslotend - vor allem im Leisen. Die Einzigartigkeit des Chorwerk Ruhr ebenso deutlich hervor wie seine ihm eigene Mischung der Stimmen. "Diese Texte sind natürlich liturgische Texte, die, obwohl sie auf russisch sind, mir aber sehr nahe sind", erzählt Helgath. "Wenn man sie übersetzt, dann habe ich sie schon sehr oft gesungen, beispielsweise als Kind bei den Regensburger Domspatzen. Es sind genau die gleichen Texte wie im Magnificat oder Te Deum oder Ave Maria."
"Vor fünf, sechs Jahren hätte ich noch gesagt, das Chorwerk Ruhr fühlt sich am wohlsten, wenn wir alte und moderne Musik machen. Wegen der Art der Stimmen, der Ausrichtung des Profils und die Erfahrung, die der Chor schon gemacht hat, die eher von der alten und vor allem der neuen Musik kommt, weil wir sehr viel Zeitgenössisches, Uraufführung, ganz verrückte Sachen machen. Wo ich immer so dachte: Vielleicht ist das nicht unser Kernrepertoire, die große Romantik, die Chorsinfonik, sozusagen die 'großen Schinken', sondern eher a-cappella. Rachmaninow ist im chorischen Klangbild schwerer, größer, umfangreicher. Vor fünf, sechs Jahren hätte ich mich noch nicht an dieses Material herangetraut oder wäre vielleicht gar nicht auf die Idee gekommen", erklärt der Dirigent.
"Wie ein Kind im Spielzeugladen"
Florian Helgath leitet das Chorwerk Ruhr seit 2011. Mit Anfang 30 sei er damals noch recht jung gewesen für eine derartig verantwortungsvolle Aufgabe, sagt er. "Ich bin überzeugt, dass eine angenehme Atmosphäre und die menschliche Komponente im Laien- wie im Profibereich entscheidend sind für die Qualität der Musik." Zwischen ihm und dem Chorwerk Ruh habe die Chemie jedoch von Beginn an gestimmt. Zugleich habe er sich wegen der großen Expertise und Qualität des Chores anfangs gefühlt "wie ein Kind im Spielzeugladen. Ich hatte das Gefühl, ich kann mit dem Chor alles machen - konnte mich aber nicht entscheiden, was ich zuerst machen will. Mittlerweile haben eine lange Strecke gemeinsam zurückgelegt, in der wir uns beide entwickelt haben, der Chor und ich. Das spürt man und das ist so wertvoll."
Für die Rachmaninow-Aufnahme hatte Helgath einen Sprachcoach engagiert, um mit den Sängerinnen und Sängern dezidiert an der Aussprache zu arbeiten. "Doch was würde ein russischer Chorleiter zum Klang sagen?", fragt sich Florian Helgath und vergleicht die Situation so: "Das wäre ungefähr so, wie wenn ein russischer Chor Brahms singen würde. Wir haben im Kopf, wie Brahms zu klingen hat, und würden vielleicht auch erstmal denken: Okay, das ist irgendwie anders. Diese andere Wahrnehmung würde mich tatsächlich mal interessieren - denn vielleicht ist es ja gar nicht so weit auseinander."