Kult um die "Lindenstraße": Ein Fernsehserie schrieb Geschichte
Sie war ein Fernsehereignis der Superlative, sie war Kult: die "Lindenstraße". Gedreht wurde sie auf dem WDR-Gelände in Köln-Bocklemünd, hunderte Schauspieler*innen und zehntausende Komparsen haben mitgespielt. Im März 2020 war Schluss.
Millionen schalteten regelmäßig am Sonntagabend ein - 1995 waren es sogar fast neun Millionen Zuschauer und Zuschauerinnen. Nach fast 35 Jahren ging die "Lindenstraße" zu Ende - mit der Folge Nummer 1.758.
Die Lindenstraße, die vielleicht bekannteste Adresse des Landes, führte immer schon mitten durchs kollektive Bewusstsein, spaltete und versöhnte. Sie lief mitten durch Familien, sie nahm die großen Themen mit, wie Aids, Tschernobyl, die Wende, Rassismus, klärte auf und machte sie - erträglich. Eine Straße wie ein schwer belasteter Fluss.
Eine Unzahl von Charakteren, von Dramen, von Intrigen, vom Hickhack zwischen Müttern und Kindern, Müttern und Vätern, zwischen Geschwistern, Nachbarn und so fort, 52.740 Sendeminuten lang. Ein menschliches Schlachtfeld - und ein Lagerfeuer, wenn ringsum alles zusammenfällt. Klar, die Lindenstraße hat auch Geschichte geschrieben: der legendäre schwule Kuss zwischen Carsten Flöter und Robert Engel, Folge 224, im Jahr 1990. Keine Form menschlicher Beziehung war ihr fremd. Und immer sickerte die Weltlage in die unwirkliche Wirklichkeit der Serie, bis zum Schluss.
Hip war sie nie
Die vorletzte Folge Nr. 1.757 war von Corona geprägt. So war sie immer beides: spießiges Refugium für Hausschuhträger - und irgendwie am Puls der Zeit, ja manchmal ihrer Zeit voraus. Hip war sie nie. Sie sah eigentlich immer älter aus, als wir glaubten zu sein. Dabei war sie genau das: wie wir. Ein ernüchternder Befund. In Einbauküchen, zwischen Holzregalen und Gelsenkirchener Barock. Aber doch auf der richtigen Seite, mit diesem Gerechtigkeitsempfinden. Regisseur Hans Geißendörfer hat dafür gesorgt. Das muss man erst einmal hinkriegen.
Fixstern der Serie war natürlich Helga Beimer, die Mutter der Nation. Marie-Luise Marjans mildes Lächeln, ihr "Donnerwetter!"-bestürzter Blick, dieses kinnladenweite Staunen: das Gesicht des Landes, lange vor Angela Merkel. Die Arme hat aber auch viel durchgemacht, der Unfalltod ihres Sohnes Benny in Folge 521, 1995, war ein echter Talk-of-the-town. Oder wer hat vergessen, wie in Folge 1.559 ihr zweiter Mann Erich Schiller ermordet wurde? Übrigens der erste Mord nach 30 Jahren Seriengeschichte, ein Schock für die Gemeinde. Die Folge wurde 2015 sogar live gesendet!
Tacheles in der "Lindenstraße"
Hier wurde nie das Lied des idyllischen Posemuckel gesungen: Hier wurde Tacheles geredet. Wie in Folge 1.757, als eine Linde wegen eines Bauprojekts gefällt werden soll. Murat Daktilen hat sich angekettet, um das zu verhindern, die ganze Straße verknotet sich solidarisch, was für ein Symbol! Und dann, gleich danach: ein Mord! Oder doch nur ein Unfall? Drama bis zum Schluss!
Till Schweiger war bis Folge 294 dabei. Klaus Beimer driftet in Folge 375 ins rechtextreme Milieu. Harry Rowohlt spielte 18 Jahre mit, er wäre heute auf den Tag 75 geworden. Unvergessen: der Hausdrache Else Kling. Und dann, natürlich, das Restaurant "Akropolis" der Familie Sarikakis, ein Treffpunkt und irgendwie Fenster zur Welt. Erinnern Sie sich? Vor 34 Jahren war Helmut Kohl an der Macht, war Tschernobyl ein intaktes Kernkraftwerk, trug "mann" Schaumfrisur und "frau" dicke Schulterpolster. Die Zukunft schien noch jung, die Lindenstraße eine Straße ins Nirgendwo.
Seit März 2020: Auf Wiedersehen, Lindenstraße!
Regisseur Geißendörfer und sein Team haben die junge BRD ins Erwachsenenalter begleitet, jetzt ist sie gereifter, auch internationaler, diverser, gleichberechtigter. Und das ist gut so. Die Lindenstraße hat einen Teil dazu beigetragen. Sie war nie eine weltferne Straße, war nie die Schlossallee bei Monopoly, sondern immer mitten drin. Ja, sie war auch eine Straße der Freiheit. Ach ja, wer fuhr eigentlich immer mit dem Fahrrad durch die Schlussmelodie? Regisseur Hans Geißendörfer selbst oder gar der biedere deutsche Michel? Dann steht es um unsere Republik nach 1.758 Folgen gar nicht schlecht.
"Herzlich willkommen" hieß die erste Folge, "Auf Wiedersehen" die letzte, die Folge 1.758. Nach mehr als 34 Jahren endete die bekannteste Fernsehserie des Landes.