"Wenn sogar 'Karl Marx' über Nächstenliebe nachdenkt"
Hamburg hält einen traurigen Rekord: In der Hansestadt leben deutschlandweit im Vergleich die meisten wohnungslosen Menschen. Zudem leben rund 4.000 auf der Straße. Ein Aktionsplan soll das bis 2030 ändern.
An der Uni, an der ich studiert habe, saß im Hörsaal ab und zu ein Mann, den wir alle "Karl Marx" nannten. Er sah mit seinem langen weißen Bart aus wie der berühmte Philosoph von vor 200 Jahren. Er kam regelmäßig in unsere Vorlesungen, schrieb aber nie etwas auf und stellte auch keine Fragen. Er saß einfach nur in der letzten Reihe, schaute interessiert und nickte immer mal wieder zustimmend. Die Lehrkräfte warfen ihm manchmal einen skeptischen Blick zu, als ob sie eine Antwort von ihm - also von dem Karl Marx - erwarteten.
"Karl Marx" kam in die Uni, um sich aufzuwärmen
Das fanden wir witzig, denn wir studierten Theologie, und der echte Karl Marx hatte ja eher sozialistische Theorien verfolgt und lehnte Kirche ab. Unser "Karl Marx" jedoch hatte ein ganz eigenes Interesse: Er kam nicht, um über Theologie zu diskutieren, sondern um sich aufzuwärmen. Er hatte nämlich kein Zuhause, kein Obdach. Er freute sich darüber, für Karl Marx gehalten zu werden. Er sagte, auf der Straße würden immer alle wegschauen, und hier habe er dadurch ein gewisses Ansehen.
"Nächstenliebe zeigt sich nicht in großen Worten"
Eines Tages ging es in der Vorlesung um Nächstenliebe. Es ging also darum, andere anzunehmen und für sie da zu sein. Die Professorin schaute plötzlich in die letzte Reihe, und da saß "Karl Marx", tief in seinen Mantel eingemummelt, und nickte zustimmend. Die Professorin lächelte und sagte: "Wenn sogar 'Karl Marx' über Nächstenliebe nachdenkt, dann sind wir auf dem richtigen Weg!"
Wir mussten alle lachen, aber die Botschaft war klar: Nächstenliebe zeigt sich nicht in großen Worten, sondern in kleinen Gesten - wie einem Platz zum Aufwärmen für Menschen ohne Obdach.