Wie eine Deutsch-Palästinenserin aus Kiel den Krieg in Gaza sieht
Amine ist in Kiel aufgewachsen und hat einen palästinensischen Vater. Sie erzählt, was sie an der deutschen Debatte unfair findet und weshalb es auch ihr schwer fällt, den Nahost-Konflikt zu erklären.
Knapp 225.000 Palästinenser und Palästinenserinnen leben in Deutschland, davon auch viele in Schleswig-Holstein. Seit dem 7. Oktober - dem Tag des Angriffs der Hamas auf Israel und dem folgenden Krieg - fällt es den meisten von ihnen schwer, sich in der aufgeheizten Debatte öffentlich zu äußern. Sie haben Sorge, ihre Aussagen könnten antisemitisch gewertet werden. Es sei schwierig, die richtigen Worte zu finden, sagen viele.
Amine aber war bereit. Die 27-jährige Lehramtsstudentin aus Kiel ist Tochter einer deutschen Mutter und eines palästinensischen Vaters, geboren in Berlin. Ihren Nachnamen möchte sie nicht veröffentlichen, um ihre Familie zu schützen. Amine kann und will nicht für eine große Gruppe sprechen, ihre Perspektive ist eine individuelle, aber sie gibt Einblick in einen Teil unserer Gesellschaft, der sich seit der Eskalation im Nahen Osten in Deutschland oftmals ungehört fühlt.
Plötzlich Palästinenserin
Ihr verstorbener Vater hat nie über seine Flucht gesprochen - wie überhaupt wenig über seine Kindheit. Ihre Familie feiert Weihnachten, zu Hause wird deutsch gesprochen. Gaza, Jerusalem, die Golanhöhen - das war für Amine immer sehr weit weg. Bis zu diesem Tag auf dem Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv. Da reiste die Kielerin gemeinsam mit einer deutschen Stipendiatengruppe nach Israel ein und einzig sie wurde vom Militär aufgehalten: "Ich bin extra interviewt und in abgetrennte Sicherheitsräume geführt worden. Da wurde mir dann klar: Okay, du bist Palästinenserin", sagt Amine. Erst seitdem beschäftige sie sich intensiver mit ihrer Herkunft.
In die Rolle der Erklärerin gedrängt
Seit dem 7. Oktober holt sie ihre eigene Familiengeschichte noch stärker ein. Für viele rücken ihre palästinensischen Wurzeln plötzlich in den Vordergrund. "Die Menschen suchen nach Erklärungen bei mir. Ich erfahre viel Mitgefühl, werde nach meiner Meinung gefragt, soll Stellung beziehen", sagt Amine. Wer hat angefangen? Wer hat recht? Was ist richtig, was ist falsch? "Aber das kann ich auch nicht leisten. Ich weiß auch nicht, welches Fake News sind und ich möchte mich auch nicht rechtfertigen müssen für einen Konflikt, der auch für mich so weit weg ist", sagt Amine. Denn sie ist in Berlin geboren, in Kiel aufgewachsen und studiert auch hier. Ihr Vater ist vor einigen Jahren gestorben und die palästinensische Seite ihrer Familie lebt über Europa verteilt.
Und dennoch oder gerade deshalb empfindet sie es als ihre Pflicht, zu vermitteln. Denn selbst, wenn sie nicht direkt persönlich betroffen ist, hat sie das Gefühl, durch ihren Hintergrund mehr Verständnis für die Sichtweise der palästinensischen Menschen zu haben. "Ich glaube auch, dass Leute mit diesem Background offener mit mir reden, weil ich Teil der Gemeinschaft bin." Ein wichtiger Punkt bei diesem so polarisierenden Thema: "Manche fürchten, allein auf das Leid ihrer Familien im Gazastreifen hinzuweisen, könnte in Deutschland als antisemitisch gewertet werden", sagt Amine.
Gefühl der Ungerechtigkeit
In den Medien und der öffentlichen Diskussion vermisst sie oft die palästinensische Seite. "Das ist ungerecht und vermittelt Menschen mit palästinensischen Wurzeln das Gefühl, ausgegrenzt und benachteiligt zu werden. Das bringt den Unmut", sagt Amine. Sie erinnere das an ihr Gefühl auf dem Flughafen in Israel, als die Militärs sie herauszogen - an das Gefühl der Ungerechtigkeit.
Insbesondere die Jugendlichen an der Kieler Schule, an der sie gerade ihr Praxissemester absolviert, suchen nach Antworten. "Die wissen nicht, was sie glauben sollen und können viele Informationen nicht einordnen." Aus Amines Sicht wird das Thema Nahostkonflikt oft zu wenig oder gar nicht an den Schulen behandelt. Die Schüler und Schülerinnen seien von den aktuellen Debatten überfordert, suchten nach Orientierung. Sie selbst hat sich Unterrichtsmaterial von Menschen mit jüdischem und palästinensischem Hintergrund zusammengestellt, um qualifizierte Antworten geben zu können.
Dabei versucht sie Verständnis für beide Seiten zu vermitteln: "Ich muss mich weder pro Israel noch pro Palästina positionieren. Ich bin für die Zivilisten auf beiden Seiten und für den Frieden. Ich empfinde da keinen Zwiespalt."
Rückkehr für ihren Vater
Im Nachhinein hätte sie mit ihrem Vater gerne mehr über seine Vergangenheit und Fluchterfahrung gesprochen. Von ihrer Israelreise hat sie ihm einen Talisman mitgebracht, den will sie auf sein Grab legen: Eine muslimische Gebetskette mit 99 hölzernen Perlen, gekauft im arabischen Teil Jerusalems. "Natürlich war sein Wunsch, einmal zurückkehren zu können in seine Heimat. Aber das ist nicht leicht bei Palästinensern. Seine Nationalität im Pass wurde ausgeixt. Ich habe gedacht, mit meinem Mitbringsel kann ich zeigen, dass immerhin seine Kinder zurückkehren können." Amine will definitiv wieder dorthin reisen - aber dafür muss erst der Krieg enden.