"Es ist unsere Pflicht, Flüchtlingen zu helfen"
ZAPP hat in Berlin mit Bild.de-Chef Julian Reichelt über die Berichterstattung in der Flüchtlingskrise und dem Verhältnis von Medien und Populisten gesprochen.
Herr Reichelt, die Populismus-Diskussion hat sich stark verschärft mit der Diskussion über Flüchtlinge ab Sommer 2015. Warum hat die "Bild" sich damals entschieden, Position pro Flüchtlinge zu ergreifen?
Julian Reichelt: Der Grund dafür war, dass wir aus persönlichem Erleben - als Reporter oder im privaten Umfeld - gesehen haben, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die tatsächlich keine andere Wahl mehr haben, als diesen Weg zu gehen. Dazu hat aus unserer Sicht die westliche Politik in vielen Punkten beigetragen. Und unser Empfinden war, dass es sich in keiner Weise mit all den Werten, für die wir sowohl als Unternehmen, aber in erster Linie als Kontinent und als Europa stehen, vereinbaren lässt, diesen Menschen nicht zu helfen und diesen Menschen in irgendeiner Weise die Tür zuzuschlagen. Und deswegen haben wir uns entschieden, bei dem zu bleiben, was wir immer gesagt haben: Über Missstände zu berichten, die sich auch daraus ergeben, aber niemals in Frage zu stellen, dass es unsere Pflicht ist, Menschen, die so etwas hinter sich haben und Menschen, die dieses Risiko auf sich nehmen, zu helfen.
Das war im Sommer 2015 eine zumindest unerwartete Entscheidung. Medienwissenschaftlicher haben zum Teil kritisiert, man hätte von der "Bild" eine andere, kritischere Positionierung erwartet. Und durch die Pro-Flüchtlings-Kampagne Mediennutzer verloren, auch als Gesamt-Mediensystem, die sich nicht mehr repräsentiert fühlten. Können Sie das nachvollziehen?
Reichelt: Irgendeinen Vorwurf gegen uns findet man immer, und jetzt ist es offensichtlich, wenn ich das richtig verstehe, der Vorwurf, dass wir diejenigen, mit denen sonst keiner mehr spricht, entfremdet haben, weil wir nicht so reagiert haben, wie man es von uns erwartet hätte. Und wofür man uns dann, wenn wir es getan hätten, massiv kritisiert hätte, uns Hetze vorgeworfen hätte. Das ist ehrlicherweise für mich ein Vorwurf, der auch aus einem vollständig geschlossenen Weltbild stammt, das vermutlich das letzte Mal nach der Lektüre von Böll oder Wallraff aktualisiert wurde.
Auf der anderen Seite sagen Sie, Journalisten müssten die Sorgen der Bürger sehr ernst nehmen, "besorgter Bürger" darf kein Schimpfwort sein. Wie kriegen Sie das denn zusammen: Sich ganz klar pro Flüchtlinge positionieren und trotzdem Sorgen ernst nehmen?
Reichelt: Das ist relativ leicht. Wenn ein Vater mit seiner Frau und zwei Kindern aus Syrien flieht und zu uns nach Deutschland kommt, dann hat er aus meiner Sicht jede Unterstützung, die wir als eine der reichsten Nationen dieser Erde bieten können, verdient, um diesen Weg für ihn sicher zu gestalten. Wenn dieselbe Person, angekommen in Deutschland, sagt, dass er es für richtig hält, zum Beispiel Homosexuelle vom Dach zu werfen, so wie es in Raqqa geschieht, weil das dem Wertekonstrukt seines Herkunftslandes in vielen Fällen ja tatsächlich entspricht, dann ist es, glaube ich, Aufgabe von Politik und Medien, ihm zu sagen, dass er das in diesem Land entweder sehr schnell überdenkt, und zwar nicht taktisch, sondern aufrichtig, oder dass das hier nicht das richtige Land für ihn ist. Das ist die Wahrheit, die wir aussprechen müssen. Aber erst hat er unseren Schutz verdient.
Aber es reicht nicht nur, zu schützen. Natürlich müssen wir die Debatte führen, welche Pflichten sich ergeben aus Zuflucht für die Schutzsuchenden. Und natürlich müssen wir bei dieser Debatte ganz klar machen, was wir in diesem Land wollen und was wir nicht wollen. Und da gibt es aus meiner Sicht einige ganz harte rote Linien. Und für diese roten Linien stehen wir auch als Medienmarke, dass wir die in der öffentlichen Debatte immer wieder benennen. Aber ich finde nicht, dass diese beiden Aspekte, die ich jetzt genannt habe, in irgendeiner Weise widersprüchlich sind, sondern verschiedene Phasen eines auftretenden Phänomens.
In der aktuellen Auseinandersetzung mit den Populisten müssten wir Journalisten uns "in den Sumpf" begeben, sagen Sie. Was meinen Sie damit?
Reichelt: Mit "Sumpf" meine ich, dass Themen, die auf den ersten Blick unangenehm sind, die als schmierig, scheußlich, dreckig, schmutzig gelten, dass es keinen Sinn macht, diese Themen einfach Menschen zu überlassen, die sie populistisch instrumentalisieren. Und ich glaube, dass es auf sehr viele Themen, die wir inzwischen als schmuddelig empfinden, sehr saubere Antworten gibt, die tatsächlich in vollem Einklang mit unseren Werten, unserem Rechtsstaat und unseren Gesetzen stehen.
Aber wenn Sie diese Themen aufgreifen, argumentieren Sie dann nicht selbst populistisch?
Reichelt: Das ist eine große Diskussion über die Definition von Populismus. Ich würde mal die ganz schreckliche Politiker-Plattitüde benutzen, dass Populismus zusammengefasst einfache Antworten auf schwierige Fragen sind. Und nur, weil es uns irgendwie nicht gefällt, dass Leute einfache Antworten geben, kann nicht unsere Antwort sein, gar keine Antworten mehr zu geben. Sondern dann müssen wir sagen: Das ist eine komplizierte Antwort, aber wir versuchen sie euch zu erklären, wir kommunizieren mit euch, so dass es verstanden wird, auch wenn es komplex sein mag. Aber der Rückzug aus der Debatte kann nicht die Antwort sein.
Inwieweit befördern Social Media die Verbreitung von Populismus?
Reichelt: Natürlich ganz massiv. Aber Social Media ermöglicht erst einmal den Lagerfeuer-Moment für Menschen mit Ansichten unterschiedlicher Art. Früher waren sie allein, und auf einmal sehen sie auf Social Media auf sehr einfache Art und Weise über Facebook-Gruppen, über Hashtags: "Ich bin nicht allein." Das macht Menschen immer mutiger. Mut - in Anführungsstrichen - führt dann oft sehr schnell dazu, dass sie laut sind, andere Menschen anziehen und überzeugen wollen. Aber dann hat man sehr schnell das, was jetzt immer als "Echokammer" beschrieben wird, dass viele Leute auf einmal das Gefühl haben: "Ah, wir haben ja doch Recht. Das ist ja doch so, weil es hier ja auch gesagt wird."
Und da ist das, was wir traditionelle Medien uns selbstkritisch sagen müssen: Wir haben immer gedacht, weil wir auf unsere Reichweiten geguckt haben, dass das, was wir sagen, schreiben, berichten, kommentieren, dass Menschen das großartig finden. Dabei haben wir, und das ist nahezu einzigartig, ignoriert, dass wir ein Quasi-Monopol hatten. In manchen Teilen unserer Medienlandschaft besteht das immer noch, in anderen Teilen kollabiert es gerade komplett. Die Leute laufen davon, sie konsumieren diese Produkte nicht mehr. Warum? Weil sie das Gefühl haben, sie haben an uns Gatekeepern vorbei einen Weg gefunden zur eigentlichen Wahrheit und sie brauchen normale Medien nicht mehr. Diese Entfremdung hat natürlich lange angefangen, bevor es Social Media gab - wir haben sie nur nicht wahrgenommen.
Und auf einmal durch dieses Phänomen Smartphone, das da wirklich wie so ein Teilchenbeschleuniger wirkt, fliegt es halt sehr vielen medialen Institutionen um die Ohren. Ein Beispiel: Was diese Klientel total eint, ist GEZ-Kritik - angeführt von Frau von Storch. Wir sehen ja, und das ist ein sehr schönes Beispiel für "Hineinwaten in den Sumpf", dass es da Reformbedarf gibt. Wir finden das Thema aber mittlerweile irgendwie schmuddelig, weil es ja bei Frau von Storch liegt, und wir trauen uns halt nicht mehr ran an dieses Thema, anstatt zu sagen: Wir müssen da was reformieren. Wenn der WDR mit den Milliarden, die er bekommt, ein Rundfunkorchester betreibt, aber vier Tage lang Köln verpennt, dann stimmt da was nicht im System. Und wenn wir nicht zumindest das Zugeständnis machen, uns das System anzugucken und über sinnvolle Reformen nachzudenken, dann geben wir diesen Leuten genau das an die Hand, was sie brauchen. Und das ist tatsächlich etwas, wo wir immer wieder den Fehler machen, uns zurückzuziehen aus der Debatte und sagen: "Das bleibt so, das ist so, das ist richtig so, das ist gut so, und wenn ihr das falsch findet, ist es umso besser." Und das ist kein Argument, was funktionieren wird.
Das Interview führte Sinje Stadtlich von ZAPP.