Nach Hanau: Was Medien besser machen sollten
Anschläge wie in Hanau hinterlassen uns sprachlos. Journalisten und Journalistinnen müssen trotzdem aktuell berichten - und finden dann oft nicht die richtigen Worte. Was zeichnet eine verantwortungsvolle Berichterstattung aus? Wilde Spekulationen sind es nicht. Schon kurz nachdem in Hanau die ersten Schüsse gefallen sind, mutmaßt ein "Welt"-Reporter: "Die Spielautomatenmafia könnte dahinterstecken." Ein Live-TV-Reporter der "Bild" will hingegen "aus relativ gut unterrichteten Quellen" gehört haben, dass es sich "beim Täterumfeld um Russen handeln könnte". Verweise auf einen potenziell rechtsradikalen Hintergrund finden nur in Nebensätzen statt. Bereits am nächsten Morgen ist aber klar: Der Täter war offenbar ein Rassist.
Medien befördern bei Spekulationen oft Stereotype
Spekulationen können gefährlich sein, mahnt "taz"-Journalistin Carolina Schwarz: "Der Fokus verlagert sich weg von den realen, hin zu möglichen anderen Motiven." So wie bei der Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Viele Medien - und sogar die Behörden - vermuteten zunächst kriminelle Verwicklungen der Opfer. Jahrelang übersahen sie das rassistische Motiv der Täter und reproduzierten Stereotype, etwa indem sie die Mordserie als "Döner-Morde" bezeichneten. Schwarz betont: "Es wurden aber keine Döner ermordet, sondern Menschen." Trotzdem schreibt auch der "Focus" im Fall Hanau zunächst von "Shisha-Morden" - und muss sich dafür später entschuldigen.
Ausufernde Berichterstattung spielt Täter in die Hände
Als der mutmaßlich rassistische Hintergrund bekannt wird, stürzen sich viele Medien in Täteranalysen. Der Mann hat mehrere Pamphlete und Videos hinterlassen. RTL fragt die Kriminalpsychologin Lydia Benecke nach einem Profil. In der "Hessenschau" analysiert ein Gewaltforscher die Texte des Mannes. Natürlich ist es spannend zu erfahren, wer hinter einer solch grausamen Tat steckt. Doch diese breite Berichterstattung spielt im schlimmsten Fall genau dem Täter in die Hände, meint Medienökonom Michael Jetter: "Terrorismus lebt von Medien. In neun von zehn Fällen ist ein Terroranschlag nicht auf die Menschen speziell gerichtet, sondern ist darauf ausgerichtet, dass er eine gewisse Medienwirksamkeit erreicht."
Nachahmer-Gefahr bei Täterfokussierung
Für eine Studie hat Jetter mehr als 61.000 Anschläge in Korrelation zur Berichterstattung untersucht. Sein Ergebnis: Je mehr berichtet wurde, desto häufiger gab es Nachahmer-Taten. Der Fall Hanau liefert dafür einen traurigen Beweis: Zwei Tage danach verüben Unbekannte einen Brandanschlag auf eine Shisha-Bar im sächsischen Döbeln. Einen Tag später schießt jemand auf eine geschlossene Shisha-Bar in Stuttgart. Trotzdem müsse berichtet werden, meint Jetter. Aber verantwortungsbewusst: "Indem Medien zum Beispiel den Tätern nicht die Genugtuung geben, ihre Bilder zu zeigen, ihre Geschichte zu erzählen, ihr Manifest zu veröffentlichen und ihren Namen zu nennen."
Perspektivwechsel: Täter marginalisieren, den Opfern Platz einräumen
Fotos des Hanauer Täters: In fast allen Medien zu sehen, bei der BILD sogar ungepixelt und mit vollem Namen. Das Manifest: Ausschnittsweise auch fast überall. Das Video: Von "Focus" zunächst in voller Länge hochgeladen. Ein Ausweg könnte sein: Anstelle des Täters die Opfer in den Blick zu nehmen. Doch es bleibt ein Beigeschmack, wenn plötzlich Mütter, Väter, Onkel und Tanten auf der Straße oder daheim unter Tränen befragt werden. Nur Stunden oder Tage, nachdem ihre Verwandten gestorben sind. "Zynisch gesagt: Im besten Fall kommt es dann zu einer Art Gefühlsausbruch vor der Kamera, die Person fängt an zu weinen. Die Person ist vielleicht sehr wütend. Und das ist, und das wissen viele Journalisten ja auch, dann sozusagen der knackige, emotionale O-Ton, der sich so gut verkaufen lässt", sagt Journalistin Marianna Deinyan.
Interviews mit Zeugen und Angehörigen sind problematisch
Deinyan hat für ihre Masterarbeit traumasensible Interviewführung erforscht. Im Falle Hanaus habe sie nicht viele sensible Interviews gesehen. Im Gegenteil: Da wird ein junger Mann, der beim Anschlag verletzt wurde, direkt im Krankenhaus interviewt und soll beschreiben, was ihm passiert ist. "Das kann im schlimmsten Falle zu einer Re-Traumatisierung führen oder zu einer Verfestigung", warnt Deinyan, "da der Betroffene die Situation noch einmal durchlebt."
Dennoch sieht Deinyan auch eine Berechtigung für Interviews mit Betroffenen. Es gelte aber der Grundsatz: Der Gesprächspartner muss die Kontrolle über das Interview behalten. Und im Vorgespräch ein Stopp-Zeichen besprechen, bei dem das Interview abgebrochen werden kann. Nicht die Geschichte sollten JournalistInnen bei ihren Beiträgen im Kopf haben, sondern die Menschen, die hinter den Stories stehen.