Zwangsfixierungen: Zu wenig Daten, zu wenig Personal
Die Hürde für Zwangsfixierungen auf geschlossenen Psychiatriestationen ist groß. Doch was das Gesetz vorschreibt, lässt sich in der Praxis kaum umsetzen - auch, weil Fachkräfte in der Pflege fehlen.
"Es ist ein No Go, dass man damit nach außen tritt. Das macht man nicht", sagt eine der beiden Frauen entschlossen. Und doch ringen sie sich durch, über ihre jahrzehntelange Arbeit zu sprechen - anonym. Dicke Jacken, Schals, sie frieren trotzdem. Ihr Blick ist fest nach vorne gerichtet aufs Wasser, an einem See, irgendwo in Schleswig-Holstein. Im Interview sprechen sie über den Alltag auf geschlossenen Psychiatriestationen und darüber, woran es für die Pflegerinnen noch immer hakt.
Geschlossene Psychiatrien: Personalnot insbesondere in der Pflege
"Ich habe Zeiten erlebt, da habe ich sieben Tage frei gehabt und bin acht-, neunmal angerufen worden, ob ich einspringen kann", erzählt eine der beiden. Über die Jahre sei das nicht besser geworden, im Gegenteil. Wie gravierend ist der Personalmangel tatsächlich?
Ende August kommt das "Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen" (IQTIG) im aktuellen Quartalsbericht zu dem Schluss: Mehr als jede zweite Psychiatrie in Deutschland erfüllt im Schnitt die Mindestanzahl beim Personal nicht. Besonders stark vom Personalmangel betroffen ist demnach die Pflege. Überraschend ist das nicht. Und doch fehlen für den geschlossenen Bereich noch immer bundesweit vergleichbare Daten.
Auf NDR Anfrage bestätigt die Gesundheitsbehörde in Bremen Personallücken. Die Gesundheitsbehörde in Hamburg schreibt hingegen, es gebe "keine Meldung, dass es personellen Engpass gibt". Das Justizministerium in Schleswig-Holstein schreibt, "dem Land liegen hierzu keine Daten vor" und verweist auf alle Kreise und kreisfreien Städte. Damit der Personalmangel sich verbessere, brauche es "strukturelle Anreize", heißt es vom Niedersächsischen Gesundheitsministerium. "Die Einrichtungen unternehmen große Anstrengungen", heißt es vom Gesundheitsministerium aus Mecklenburg-Vorpommern. Konkreter wird es nicht.
"Wir werden mit dem ganzen Krankenpflegepersonal irgendwo zusammengesteckt", stellen die beiden Pflegerinnen nüchtern fest. "Im Großen und Ganzen werden wir eigentlich nicht gesehen."
Besuchskommissionen: Keine Kontrolle für den Alltag
In Bremen geht die Gesundheitsbehörde davon aus, dass sich die Personalsituation im geschlossenen Bereich "mittelfristig" verbessern lasse. Wichtig sei, transparent und auf Augenhöhe darüber zu sprechen, was noch immer schieflaufe. Dabei setzen sie auf die Kontrolle durch sogenannte "Besuchskommissionen" - die gibt es in allen Bundesländern. Beim Klinikum Bremen-Ost kann Panorama 3 bei einem "Besuch" dabei sein. Mit einem entscheidenden Unterschied: Am Tag des Drehs weiß das Klinikpersonal ausnahmsweise, dass die Besuchskommission kommt.
Wie die Kontrolle der Besuchskommissionen abzulaufen hat, ist Ländersache. Die Grundlage dafür ist das jeweilige "Psychisch-Kranken-Gesetz" (PsychKG). Was alle Kommissionen eint: Die Kontrolle ist punktuell, passiert im Schnitt nur ein- bis zweimal im Jahr. Probleme im Alltag, wie den Personalmangel und dessen Folgen, können die Kommissionen also lediglich stichprobenartig erfassen.
Besuche in vielen Ländern angekündigt
Doch selbst diese Kontrollen haken, so haben es NDR Recherchen ergeben. Das hat insbesondere zwei Gründe: Im Gegensatz zur Kommission in Bremen melden sich viele der norddeutschen Kommissionen vor ihrem Besuch bei der jeweiligen Klinik an. Zudem stecken die Berichte einiger Kommissionen zur Bearbeitung in den jeweiligen Gesundheitsbehörden fest und sind damit nur unregelmäßig öffentlich einsehbar. Insbesondere in Hamburg ist das ein Problem. Auch darüber hat NDR Info im Sommer bereits ausführlich berichtet.
Zwangsfixierungen: Theorie und Praxis kaum vereinbar
Zur Standardfrage bei der Bremer Besuchskommission gehört die Frage nach den so genannten Zwangsmaßnahmen. Gemeint sind beispielsweise Zwangsmedikationen oder Zwangsfixierungen. Letztere gelten in Deutschland als "letztes Mittel", sind also nur dann erlaubt, wenn sich Patientinnen und Patienten nicht anders beruhigen lassen und damit drohen, sich oder andere zu gefährden. Dauern Zwangsfixierungen länger als eine halbe Stunde an, braucht es dafür unter anderem eine Eins-zu-Eins-Betreuung und einen richterlichen Beschluss.
Dafür sind sogenannte Betreuungsrichter zuständig. Die Abteilung beim Amtsgericht in Kiel leitet Tim Otto. Der Kieler fährt zwei- bis dreimal die Woche zur Kontrolle auf eine Psychiatriestation, seit Jahren. Er erzählt von Situationen, in denen sich Richter und Oberärzte verzweifelt gegenüberstehen: Der eine mit dem gesetzlichen Auftrag, die Zwangsfixierung abzulehnen, der andere mit dem Wissen, dass sich der Patient nicht anders beruhigen lasse.
"Das führt dazu, dass das Gericht in dem Dilemma ist, dass die Ärztinnen und Ärzte in einem Dilemma sind und dass sich das Ganze zulasten der betroffenen Personen und der Betreuer, im Prinzip zulasten aller Beteiligten am System, auswirken kann."
- Tim Otto, Betreuungsrichter
Betreuungsrichter: Gesetzeslage ist "Dilemma für alle Beteiligten"
Im Zweifelsfall könne das dazu führen, dass Patienten von Kliniken entlassen werden müssten. "Weil sie sagen: Wir können die Situation nicht handhaben, wir können die Sicherheit unseres Personals, der Mitpatienten oder die Sicherheit der betroffenen Person nicht gewährleisten", sagt Otto.
Eine Sackgasse, für die es kurzfristig keine Lösung gebe. Langfristig müsse sich die Gesellschaft viel mehr Gedanken über die Gewährleistung von Freiheits- und Grundrechten auf geschlossenen Psychiatriestationen machen. Doch Otto ist skeptisch: Schließlich hätte der geschlossene Bereich keine Priorität, Geld fehle auch sonst überall, "und Ressourcen haben natürlich am Ende immer auch was mit Finanzierung zu tun."
Doch die Politik scheitert hier bereits an der notwendigen Datengrundlage. Auch von den zuständigen Behörden in Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern heißt es: Die Anzahl an Zwangsfixierungen werde separat noch nicht erfasst. Einen bundesweit vergleichbaren Überblick darüber, wann es weshalb zu welchen Zwangsfixierungen gekommen ist, gibt es noch nicht.
Pflegerinnen: "Das Personal wird immer weniger"
Auch die beiden Pflegerinnen erzählen von Zwangsfixierungen und was diese mit ihnen gemacht hätten. "Oftmals kam ich mir vor wie ein Vergewaltiger, weil einige Patienten eben gar nicht wussten, was passiert." Irgendwann ist ihnen der Druck im Alltag zu groß. Heute arbeiten auch sie nicht mehr auf einer geschlossenen Station. Dass sich am Fachkräftemangel auf geschlossenen Psychiatriestationen zeitnah etwas ändert, glauben beide nicht.