Schielende Patienten: Immer weniger Termine für Operationen

Stand: 30.01.2024 18:30 Uhr

Für schielende Patienten wird es in Deutschland immer schwieriger, eine Klinik zu finden, die sie zügig operiert. Viele Krankenhäuser haben monatelange Wartezeiten, teils sogar von mehr als einem Jahr. Knapp die Hälfte der betroffenen Patienten sind Kinder, deren Schielen eigentlich früh - spätestens vor der Einschulung - behandelt werden sollte.

von Christian Baars und Brid Roesner

Panorama 3 hat die 30 Krankenhäuser in Deutschland angefragt, die bisher die meisten Schiel-OPs durchgeführt haben. Viele antworteten, dass sie große Sorgen haben, Schielpatienten überhaupt noch ausreichend versorgen zu können. Das Problem ist laut den Kliniken die schlechte Vergütung.

Aufwändige, unlukrative Operationen

Thomas Lischka © NDR
Der Mediziner Thomas Lischka fürchtet, dass die OP-Kapazitäten weiter schwinden.

Schiel-OPs sind im Vergleich zu anderen Augen-Operationen recht aufwändig, sagt Thomas Lischka. Er arbeitet teils als Oberarzt an der Unimedizin Oldenburg und hat eine eigene Praxis in Hamburg. Bei jedem Eingriff muss eine Assistenz dabei sein und Kinder bräuchten ohnehin eine intensivere Betreuung als Erwachsene – im ambulanten Bereich seien die Eingriffe daher einfach nicht lukrativ. Niedergelassene Ärzte bieten Schiel-OPs nur selten an, die meisten Eingriffe werden in Krankenhäusern gemacht, vor allem in Unikliniken.

Doch auch die fürchten, von nun an mit den Operationen dauerhaft Verluste zu machen. Der Grund dafür ist die Entscheidung, deutlich mehr OPs nicht mehr stationär, sondern nur noch ambulant durchzuführen. Damit soll Geld gespart und unnötige Krankenhausaufenthalte vermieden werden. Zu Beginn des vergangenen Jahres ist die Liste der Eingriffe, die ambulant durchgeführt werden sollen, erweitert worden. Auch Schiel-OPs stehen nun darauf.

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Verlustgeschäft für Kliniken

Seitdem sollen auch Krankenhäuser in der Regel nur noch einen ambulanten Vergütungssatz für den Eingriff, der bei einer einfachen Operation bei etwa 400 Euro liegt, abrechnen können. Eine Schiel-OP kostet die Krankenhäuser aber deutlich mehr. Vor allem Unikliniken haben wesentlich höhere Grundkosten als kleine Praxen. Nach Berechnungen der Medizinischen Hochschule Hannover verursacht eine Schiel-OP in ihrem Haus Kosten von etwa 930 Euro.

"Das muss dazu führen, dass die Kapazitäten geringer werden, das ist ja klar", sagt Augenarzt Lischka. Wenn Kapazitäten schrumpfen, müsse er in der Folge aussuchen, welche Patienten er behandele und wer leer ausgehe. "Wie soll ich das denn machen?", fragt Lischka. "Das ist ja nicht mit den Grundsätzen vereinbar, dass jeder Patient gleich zu behandeln ist."

Behandlung Hunderte Kilometer entfernt

Dieter Ellermann kneift ein Auge zu. © NDR
Dieter Ellermann brauchte die OP dringend, konnte etwa kaum noch lesen.

Offenbar bekommen schon jetzt einige Patienten die Folgen der Entscheidung zu spüren, etwa Dieter Ellermann aus Hamburg. Sein rechtes Auge schielte schon immer, erblich bedingt. Irgendwann verschlechterte sich die Situation. Er begann, Doppelbilder zu sehen, und konnte ein Jahr lang kaum noch ein Buch lesen, berichtet er. Es sei nur noch mit zugekniffenem Auge gegangen. Und beim Autofahren wurde es gefährlich.

Im vergangenen Jahr sollte er in Hamburg operiert werden. "Dann bekam ich Anfang April einen Anruf, dass die Operation nicht möglich wäre, dass das wahrscheinlich abrechnungstechnische Gründe sind," sagt Ellermann. Er musste sich um einen neuen OP-Termin woanders kümmern. Mittlerweile wurde er in Oldenburg operiert.

Wie schwierig es für Patienten teils ist, zeigt auch der Fall eines Mädchens aus Nordrhein-Westfalen. Sie fing mit zwei Jahren an zu schielen, vor der Einschulung sollte sie operiert werden. "Ich hatte einfach Angst, dass meine Tochter gehänselt wird in der Schule", sagt ihre Mutter. Das Schielen sei sehr auffällig gewesen. "Das war eine große Sorge von mir, dass sie dann direkt am Anfang negative Erfahrungen macht."

Doch die Klinik in NRW hat die OP verschoben, es fehlte offenbar Personal. Die anderen großen Unikliniken des Landes winkten ab, schon auf die Voruntersuchung hätten sie teils bis zu einem Jahr warten müssen, erzählt die Mutter. Untersucht und operiert wurde das Mädchen schließlich am Universitätsklinikum in Hamburg, vier Autostunden vom Wohnort entfernt. Die Eltern nahmen Urlaub, buchten ein Hotel und kümmerten sich um die Versorgung des älteren Bruders des Mädchens. Ein Aufwand, den nicht jede Familie stemmen kann.

Augenarzt: "Die werden einfach hinten runterfallen"

Augenarzt Thomas Lischka zeigt auf einem Bildschirm auf das Bild eines schielenden Kindes. © NDR
Lischka fürchtet, dass ohnehin benachteiligte Kinder schwerer an Behandlungen kommen.

Dies führe dazu, dass Kinder, die ohnehin schon benachteiligt seien, noch stärker benachteiligt würden, sagt Lischka: "Die werden einfach hinten runterfallen, und das ist unfair. Ich wünsche mir, dass jedes Kind die gleichen Chancen hat." Denn Schielen beeinflusse das ganze Leben. Würden Kinder nicht behandelt, starteten sie in allen Lebensbereichen unter schlechteren Vorzeichen. Unter anderem kann das räumliche Sehen dauerhaft beeinträchtigt bleiben, wenn Schielen nicht geheilt wird.

Problem hätte vermieden werden können

Wie es in den Kliniken weitergeht, ist noch unklar. Einige kleinere Krankenhäuser bieten offenbar bereits diese OPs nicht mehr an, die großen Unikliniken teilten größtenteils mit, sie würden weiterhin Patienten behandeln. Aber sie hoffen darauf, nicht auf den Kosten sitzen zu bleiben.

Eine mögliche Lösung wäre etwa, die Schiel-Operationen anders zu vergüten – über sogenannte Hybrid-Sätze, die für ambulante und stationäre Behandlungen gleich hoch sind. Verhandelt werden diese vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und den Kassenärztlichen Bundesvereinigungen. Weil die sich aber im vergangenen Jahr nicht fristgerecht auf einen Katalog mit solchen Sätzen einigen konnten, setzte das Bundesgesundheitsministerium diesen Katalog im Dezember per Verordnung fest. Die Schiel-OPs sind vorerst nicht dabei.

Eingangsschild des Bundesgesundheitsministeriums in Berlin © picture alliance/dpa Foto: Philipp Znidar
Das Bundesgesundheitsministerium sieht die Ärztevertreter am Zug

Das Ministerium erklärte auf Anfrage von Panorama 3, verantwortlich für die Vergütungsregeln seien weiterhin der Bund der Krankenkassen, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen. Die Verbände müssten über die Höhe der Vergütungen gemeinsam entscheiden. Die Verordnung, mit der das Ministerium den Katalog im Dezember festgelegt hatte, gilt ein Jahr. Im Übrigen sei "es Aufgabe der Kassenärztlichen Vereinigungen, ein flächendeckendes ambulantes Versorgungsangebot sicherzustellen", schreibt das Gesundheitsministerium. Die Ärztevertreter sollen sich also darum kümmern.

Augenarzt Lischka hat selbst ein Interesse, dass Schiel-Operationen häufiger ambulant durchgeführt werden. Mit den derzeitigen Rahmenbedingungen gehe es aber nicht: "Es fehlen schlicht die Möglichkeiten das zu tun." Für die Übergangsphase müsste investiert werden, sagt Lischka. Dann würden sich voraussichtlich Zentren für die ambulanten Eingriffe etablieren.

 

Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 30.01.2024 | 21:15 Uhr