Gewalt gegen Pflegekräfte steigt
An deutschen Krankenhäusern ist die Zahl von Gewalttaten gestiegen. Das zeigen neueste Zahlen. Wie gehen Pflegekräfte damit um?
Die Heizung rausgerissen, das Personal bedroht: Im Zimmer 31 im Hamburger Agaplesion Krankenhaus spielen sich Szenen ab, die für Krankenpflegerin Vivien Czenna zum Alltag gehören. Ein 92-jähriger Patient war verwirrt, hatte in der Nacht randaliert. Dass demente oder psychisch kranke Patienten manchmal gewalttätig werden oder beleidigen, ist Teil der Krankheit. Immer häufiger jedoch erlebt sie Gewalt von geistig gesunden Patienten und Angehörigen.
"Meine Kollegin und ich hatten Nachtdienst und auf einmal standen 30 große Männer vor uns, die uns angeschrien haben, dass die Mutter wegen uns tot ist. Wir hatten Angst, haben uns eingeschlossen und die Polizei gerufen", erinnert sich die 30-Jährige.
Czenna leitet die Station für Privatpatienten, arbeitet seit elf Jahren in ihrem Beruf. Als Frau habe sie auch mit Sexismus zu kämpfen, erzählt sie. "Man wird oft ‚Süße‘ oder ‚Puppe‘ genannt. Ich stelle mich auch anders hin, nicht direkt neben dem Bett, weil man sonst an der Hüfte oder Gesäßbereich angefasst wird."
Dem NDR Magazin Panorama 3 erzählen viele Pflegerinnen und Pfleger von ihren Erfahrungen. Sie werden bespuckt oder geschlagen und am häufigsten verbal attackiert. Janik Kolthof arbeitet in Hannover in der Notaufnahme. Ein Patient schlug ihn mit der Faust ins Gesicht. Der Hamburger Krankenpfleger Fabian Glantz wurde sogar mal mit einer Schere bedroht. Für Krankenpflegerin Mareike Bödeker, die in einer Notaufnahme in Hannover arbeitet, gehören die Anrufe bei der Polizei zum Alltag. "Ich bin der Box-Sack, der alles abkriegt", fasst Stephanie Holz zusammen. Sie arbeitet in einem Krankenhaus in Schwerin.
73 Prozent berichten von zunehmender Gewalt
Eine aktuelle Umfrage im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft bestätigt diese Erfahrungsberichte. An der repräsentativen Umfrage beteiligten sich bundesweit 250 Krankenhäuser. 73 Prozent gaben an, dass die verbale und körperliche Gewalt gegen Krankenhauspersonal in den vergangenen fünf Jahren zugenommen habe. Eine Hauptursache dafür sei zum einen der Zustand der Patienten, weil sie alkoholisiert seien oder Schmerzen hätten. Aber auch ein zunehmender Respektverlust gegenüber dem Personal wird als Ursache genannt.
Uta Gaidys ist Professorin für Pflegewissenschaft an der HAW in Hamburg. Sie forscht seit Jahrzehnten auch zum Thema Gewalt und hat dabei erkannt: Die komplizierten Abläufe in Krankenhäusern überforderten oft Patienten. Das sei auch eine Ursache für die Gewalt, sagt sie. Gerade in den Notaufnahmen sei das anschaulich.
In der Notaufnahme: Wartezeiten von bis zu zehn Stunden
Das bestätigt auch der 30-jährige Lukas Höhn, der in der Notaufnahme der Friederikenstifts in Hannover tätig ist. An arbeitsreichen Tagen sei das Patientenaufkommen kaum zu bewältigen. Da würden viele aggressiv werden, erzählt er. "Als ich hier angefangen habe, war ich sehr erschrocken darüber, dass andere Menschen, die in Not sind, so ausfallend werden können. Dabei will ich ihnen doch helfen. Irgendwann stumpft man aber ab."
Das Hauptproblem seien die Wartezeiten. Zwischen sechs und zehn Stunden müssten Patienten teilweise in der Notaufnahme warten. "Wir führen viele Tests durch und wir ziehen auch mal Patienten vor, die dringlicher behandelt werden müssen. Man ist hier nicht in zehn Minuten durch", sagt Höhn. Oft eskaliere die Situation: "Verbale Attacken erlebe ich täglich. Am schlimmsten ist es aber für mich, bespuckt zu werden. Das ist schon sehr erniedrigend." Der Personalmangel verstärkt die Arbeitsbelastung in vielen Notaufnahmen - und fördert Unzufriedenheit bei den Patienten. Ein Teufelskreis.
"Viele Pflegekräfte, die diese Gewalterfahrungen routinemäßig machen, überlegen sich, ob das ein Beruf ist, in den sie bleiben möchten", sagt Expertin Gaidys. Die Umfrage der Deutschen Krankenhausgesellschaft kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Die verbalen und körperlichen Attacken haben Folgen für das Krankenhauspersonal: 87 Prozent geben an, eine deutliche psychische Belastung zu spüren. 24 Prozent der Krankenhäuser melden sogar, dass Mitarbeitende deswegen gekündigt hätten.
Deeskalationstrainings zur Vorbeugung
Viele Krankenhäuser haben das Problem erkannt und beugen vor. 63 Prozent der Einrichtungen setzen auf Deeskalationstrainings als Maßnahme. So auch Vivien Czennas Arbeitgeber. Sie besucht zwei Tage lang ein Krankenhausinternes Training. Georg Severin leitet das Seminar und muss bei vielen Teilnehmenden ganz vorn anfangen. "Wir müssen erstmal die Leute für das Thema sensibilisieren und erklären, was überhaupt eine Eskalation ist. Vieles wird einfach so hingenommen und gar nicht mehr wahrgenommen. Aber wenn ich das nicht wahrnehme, macht es mich irgendwann kaputt", sagt Severin.
Czenna ist die erste aus ihrer Abteilung, die teilnimmt. Sie wünscht sich, dass noch mehr Kolleginnen und Kollegen solche Trainings besuchen. Das Gelernte konnte sie bereits in ihrem Arbeitsalltag einsetzen. "Wir hatten zwei Situationen, in denen ich einfach überhaupt nicht mehr so unruhig war. Ich habe diese Situationen als gar nicht mehr so schlimm wahrgenommen", sagt sie. Dennoch: In norddeutschen Krankenhäusern treffen ungeduldige Patienten weiterhin auf lange Wartezeiten und zu wenige Pflegekräfte. Diese Ursachen für die Gewalt bleiben.