G20-Prozess: Hartes Vorgehen gegen Fabio V.
Der Fall des jungen Italieners sollte ein Beispiel für erfolgreiche Strafverfolgung von G-20-Demonstranten sein. Doch so einfach scheint es nicht zu sein. Denn die Beweislage ist dünn. Der junge Mann vom Südrand der Alpen, Fabio V., war kurz vor Beginn des G-20-Gipfels am Rande eines von der Polizei aufgelösten Protestzuges mit rund 200 Teilnehmern festgenommen worden. Das Hanseatische Oberlandesgericht (OLG) hielt eine "empfindliche Freiheitsstrafe" für "wahrscheinlich". Die Vorwürfe wogen schwer: versuchte schwere Körperverletzung, tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte und besonders schwerer Landfriedensbruch. Die zu erwartende Strafe stelle einen Fluchtanreiz für den jungen Italiener dar, deshalb müsse er während des Prozesses in Untersuchungshaft bleiben, schrieben die Richter im Juli.
Haftbefehl gegen Fabio V. ausgesetzt
Aber jetzt, nach fünf Verhandlungstagen, schrumpft die Anklage offenbar zusammen. "Aus verfahrensökonomischen Gründen könnte es angezeigt sein, die Anklagevorwürfe (…) auf den Vorwurf des (besonders schweren) Landfriedensbruchs zu beschränken", heißt es in einem neuen OLG-Beschluss vom 24.11.2017. In dem Beschluss weisen Hamburgs oberste Richter den Antrag der Staatsanwaltschaft ab, Fabio V. in Untersuchungshaft zu halten. Der Angeklagte kam gegen Auflagen frei. Der Haftbefehl gegen ihn ist außer Vollzug gesetzt, wie es das Amtsgericht bereits eine Woche zuvor entschieden hatte. Fabio V. wird also fortan nicht mehr in Handschellen, sondern als freier Mann zu seinem Prozess erscheinen.
Staatsanwaltschaft hat keine Beweise
Aus dem Protestzug anlässlich des G-20-Gipfels waren laut Anklage 18 Gegenstände in Richtung herannahender Polizisten geworfen worden. Die Staatsanwaltschaft räumt jedoch selbst ein, dass sie Fabio V. keine eigenhändige Gewaltausübung nachweisen könne. In der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht antworteten bislang sämtliche Polizeizeugen auf die Frage, ob sie den Angeklagten bei der Demo gesehen hätten, mit "Nein".
Die Anklage beruht auf dem Vorwurf, der Italiener sei Teil einer gewaltbereiten Demo gewesen. Er habe "gewusst", dass die Demonstranten Gewalt und Zerstörung im Schilde geführt hätten und er habe sie dabei "psychologisch" unterstützt. Bei der Gewaltbereitschaft habe es sich um ein "gemeisames Wollen" gehandelt.
In der Anklageschrift klingt das so: Fabio V. "leistete auf der Grundlage gemeinsamen Wollens einen die Tatbestandsverwirklichung erst ermöglichenden Beitrag, der sich nach seiner Willensrichtung nicht als bloße Förderung fremden Tuns, sondern als Teil der Tätigkeit aller darstellte und die Handlungen der anderen als Ergänzung seines eigenen Tatanteils erscheinen lässt."
Vermummung? ver.di-Jugend dementiert
Die Staatsanwaltschaft begründet dieses "gemeinsame Wollen" zum Beispiel so: Es artikuliere sich in der einheitlichen schwarzen Kleidung der Demonstranten und in der Vermummung.
Diese Argumentation bekommt Risse, wenn man mit der "ver.di-Jugend" im Gewerkschaftshaus in Bonn redet. Panorama 3 trifft dort drei junge Frauen und drei junge Männer, die an jenem Demozug im Westen Hamburgs teilgenommen haben. Gegen alle laufen Strafverfahren. Der Plan der Strafverfolger scheint zu sein: wenn Fabio verurteilt wird, werden auch sie verurteilt.
"Wart Ihr vermummt?", fragen wir. "Nein, waren wir nicht", lautet die einhellige Antwort. "Man konnte Euch erkennen?" - "Ja." Nicht schwarz, sondern bunt seien sie gekleidet gewesen.
Neues Polizeivideo
Das scheinen Videos zu bestätigen, die die Polizei selbst beim Zugriff auf die Demonstranten aufgenommen hat und die Panorama 3 vorliegen. Man erkennt, wie eine junge Frau im roten Shirt schützend den Arm um ihre Freundin legt, die eine blaue Jeans trägt. Ringsum sind Wasserwerfer im Einsatz. Polizisten bringen Demonstranten "mit einfacher körperlicher Gewalt" zu Boden.
Die Frau im roten Shirt ist Julia Kaufmann, Krankenschwester, Mitglied der ver.di-Jugend und Beschuldigte. Wenige Sekunden später liegt auch sie am Boden, in einer Pfütze. Neben ihr sieht man ein weißes Megafon. Ein Polizist hebt es auf und trägt es weg. "Ich und Carlotta haben das Megafon getragen", berichtet Julia Kaufmann. Während der Demo habe sie Durchsagen gemacht, dass der Protest sich nicht gegen die Polizei richte, sondern gegen die Politik der G-20. "Ich habe gesagt: wir sind heute nicht hier, um anzugreifen, um etwas kaputt zu machen. Wir wollen unser legitimes politisches Anliegen auf die Straße tragen (…) Wir wollen niemandem schaden und wir wollen eine Demo sein, an der sich jeder beteiligen kann. Die offen ist für die Menschen. Und nicht abschreckend."
Demo sollte gewaltfrei ablaufen
Vor dem Zusammenstoß mit der Polizei habe ein sorgfältig vermummter Demoteilnehmer eine Bushaltestelle beschädigt. "Den haben wir ausgeschimpft und zurechtgewiesen", berichtet Simon Ernst, Geschichtsdoktorand an der Uni Köln. "Es gab sofort Megafondurchsagen, dass so was nicht erwünscht ist."
Die Frage, ob sie sich aus der Gruppe entfernen müsse, weil sie auf Gewalt aus sei, habe sich für sie nicht gestellt, bekräftigt Gwenda Kircher, eine 17-jährige Waldorf-Schülerin. "Unser Konsens war, dass wir gegen Gewalt sind. Das haben die Reaktionen auf die Beschädigung der Bushaltestelle gezeigt", fügt sie hinzu.
"Ich kannte 20 bis 30 Leute auf der Demo", erzählt Lucas Kreuder, der nach seiner mündlichen Abiturprüfung aus dem Rheinland nach Hamburg gereist war. "Mit denen hatte ich das gemeinsame Wollen, keine Gewalt auszuüben, aber zivilen Ungehorsam."
"Wenn er angeklagt ist, sind wir alle angeklagt"
"Unterhaken, standhaft bleiben", habe man sich für den Fall einer Konfrontation mit der Polizei vorgenommen, sagt Nils Jansen, Student. Dass Steine auf Polizisten geworfen würden, damit habe er nicht gerechnet. "Was ich über diese Demo wusste: dort sollten keine Steine geschmissen werden. So wie ich die Demo wahrgenommen habe, war das nicht Teil des Plans", bekräftigt Simon Ernst. Vor Ort hätten sie gar nicht mitbekommen, dass im Moment des Zugriffs der Polizei Steine geflogen seien. Das hätten sie erst später in den Videos gesehen.
Wenn die Mitglieder der ver.di-Jugend NRW-Süd die Wahrheit sagen, lässt sich die Geschichte vom Schwarzen Block, der geschlossen auf Randale aus war, nicht aufrecht erhalten. Jeder einzelne von ihnen ist genauso schuldig oder genauso unschuldig wie Fabio V. Der italienischen Angeklagte macht bislang vor Gericht von seinem Schweigerecht Gebrauch. "Wenn er angeklagt ist, sind wir alle angeklagt", sagt Lucas Kreuder. Das denkt wohl im Prinzip auch die Staatsanwaltschaft in Hamburg. Ob sie die "Beschränkung" der drei Anklagepunkte auf den alleinigen Vorwurf des Landfriedensbruchs mitmachen wird, wie vom OLG vorgeschlagen, ist unklar. Sie möchte nach einer Verurteilung des Italieners gern mehr als 50 Beschuldigten aus jener Demo den Prozess machen. Wird dieser Plan aufgehen? Der Verlauf des Prozesses gegen Fabio V. und die Aussagen der Gewerkschaftsjugend aus Bonn wecken Zweifel.