Sendedatum: 16.05.2024 21:45 Uhr

Zahnspangen: Wie Kieferorthopäden Kasse machen (Manuskript)

von Johannes Edelhoff, Markus Grill und Palina Milling, NDR/WDR

Panorama v. 16.05.2024

Anmoderation Anja Reschke: "Was sollte man so nach landläufiger Meinung seinen Kindern mitgeben, um ihnen optimale Chancen fürs weitere Leben zu geben? Liebe, natürlich, eine gute Ausbildung – und gute Zähne. Ein ebenmäßiges, Gebiss ist immer noch Ausdruck von Status. Leider sind Zähne und Kiefer von Natur aus aber nicht immer so perfekt, was dazu führt, dass die Hälfte der Teenager mit festen Zahnspangen herumlaufen. Damit zumindest beim Lächeln Chancengleichheit herrscht – zahlen Krankenkassen kiefernorthopädische Behandlungen. Es ist also keine Sache des Geldbeutels. Theoretisch. Denn auf dem Behandlungsstuhl wird einem vom Kiefernorthopäden mit vermeintlich medizinischen Gründen – Migräne, Depressionen, Nackenschmerzen usw – gerne zu den viel teureren privat zu zahlenden Modellen geraten. Und das passiert in Deutschland in einem ungeheuerlichen Ausmaß. Oft sinnlos, aber sehr lukrativ für einige Ärzte, wie die Recherchen von NDR WDR SZ zeigen."

Heute bereuen sie die Wahl des Kieferorthopäden für ihre Kinder. Dass die Teenager, die nicht gezeigt werden sollen, eine Zahn-Spange brauchen, war klar. Aber ihr Arzt Dr. Kaspar warnte, sagen sie. Die Standard-Zahn-Spange - das Kassenmodell - könnte den Kindern schaden.

O-Ton Peter Schumann, Name geändert: "Die Kassenleistung wurde auf eine Weise präsentiert, dass eigentlich sehr deutlich wurde, dass das das eine minderwertige Qualität ist, eine minderwertige Behandlung. Da wurden Worte verwendet, wie: "Das ist veraltet, die Behandlung ist wird mit veralteter Technik durchgeführt."

Das ist Dr. Kaspar ihr Kieferorthopäde, der zur Extrazahlung rät. Werbevideos präsentieren ihn einfühlsam.

O-Ton Dr. Robert Kaspar, Kieferorthopäde: "Kennen Sie das Problem? Sie suchen den richtigen Arzt und wissen nicht, an wen Sie sich wenden sollen. Nun, als Kind habe ich von meinen Eltern diese Frage immer wieder gestellt bekommen. Sie sagten, wie wichtig es sei, gesunde und gerade Zähne zu haben. Sie sagten immer. Ein schönes Lächeln öffnet, was sonst verschlossen bleibt. Mein Name ist Robert Kaspar. Als Kieferorthopäde und Zahnarzt habe ich für meine Patienten das erreicht, wonach Sie vielleicht noch suchen."
Quelle: Youtube/ DrKasparBremen

Eine gute Behandlung sei eben teurer, so Dr. Kaspar. Die Familie sollte privat dazubezahlen. Nur dann bekämen sie eine gute Behandlung und eine bessere Zahnspange. Dr. Kaspar zeigte ihnen auch dieses reißerische Infoblatt. Eine Patientin mit Kassenmodell verzieht vor Schmerz das Gesicht. Links ein Bild der Kassenspange – der Zahn gelb – rechts daneben die Zähne mit der Privaten teuren Spange - sie strahlen weiß.

O-Ton Peter Schumann, Name geändert: "Ich erinnere mich auch noch. Das fand ich sehr spannend eigentlich, dass da noch ein zweiter Bogen dabei war. Sagte, der ist gar nicht so relevant, der ist nur relevant, falls Sie sich entscheiden sollten, nichts dazu zu bezahlen. Und auf diesem zweiten Bogen habe ich dann später festgestellt, steht, dass man dann die Praxis auch von jeglicher Haftung entbindet, wenn man sich gegen Zuzahlung entscheidet und das Ergebnis dann nicht den Erwartungen entspricht. Also das war schon, fand ich sehr. Hat schon ganz schön Druck gemacht."

Zum Verständnis: Dieses Formular verlangt eine Unterschrift für die ganz normale Kassenleistung: dass der Arzt nicht haftet, wenn er normal behandelt wird. Die Schumanns aber bezahlen dazu. Für beide Kinder etwa 6.500 Euro.

Dr. Kaspar lässt uns über seinen Anwalt ausrichten: er habe nie Druck ausgeübt oder zur Zuzahlung gedrängt. Er habe den gesetzlichen Vorgaben entsprechend aufgeklärt. Etwa zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland bekommen eine Zahnspange. Die allermeisten Familien – etwa 80 Prozent – bezahlen neben den Kassenkosten extra Geld dazu. Im Durchschnitt für jeden rund 1000 Euro zusätzlich. Ist das nötig, die Kassenmodelle so schlecht? Dr. Spassov –behandelt fast alle seiner Patienten ohne Zuzahlungen, sagt er. Die teuren Zahnspangen würden keine medizinischen Vorteile bieten.

O-Ton Dr. Alexander Spassov, Kieferorthopäde: "Der Forschungsstand, den ich kenne sieht keine Unterschiede, weder in der Behandlungsdauer noch in der Behandlungsqualität, also im Sinne, dass die Behandlungsziele erreicht werden, noch im Risiko von irgendwelchen Schäden wie zum Beispiel Karies oder Zahnfleischerkrankungen oder was auch immer. Das heißt also, wenn wir Gründe angeben für bestimmte Leistungen, dass sie besser seien als andere, dann trifft das nicht zu."

Die Studienlage bestätigt das. Zuletzt erschien eine große Meta-Studie. Das Ergebnis: Die überwiegende Mehrheit der untersuchten Kriterien zeigte keine signifikanten Unterschiede zwischen den 3 Arten von Zahnspangen. Heißt – das Kassenmodell reicht aus. Und Spassov sagt, was die Kasse zahlt, genügt auch, um seine Praxis zu betreiben, seine Angestellten zu bezahlen. Um das zu beweisen, zeigt er uns eine Abrechnung.

O-Töne Panorama: "Jetzt kostet ja hier diese Spange, wenn ich das richtig sehe, 3.000 €." Dr. Alexander Spassov: "Ja." Panorama: "Wie viel Stunden müssen Sie denn dafür insgesamt arbeiten? Für so eine Summe?" Dr. Alexander Spassov: "Also geschätzt arbeite ich für diese, für diese Summe etwa maximal zwei Stunden, wenn alles gut läuft. Das heißt also, das Einsetzen der Zahnspange, die Bogenwechsel und die Herausnahme der Spange, ohne dass ich jetzt noch die Nachkontrollen .. könnte ich auf zwei Stunden kommen. Sagen wir maximal vielleicht drei. Aber nicht länger. Also Nettozeit am Stuhl." Panorama: "Wieviel ist davon jetzt Praxisgrundkosten und so was wie Materialkosten?" Dr. Alexander Spassov: "Und selbst wenn wir alle Kosten mit reinnehmen, auch Mietkosten. Das variiert natürlich sehr stark und denke ich, dass wir hier maximal 30 % von dieser Summe, die die die Kosten sind."

Wir recherchieren weiter: Die Privat-Spangen sind nicht nur medizinisch unnötig, sondern manchmal sogar noch überteuert. Uns liegen Einkaufspreise vor und E-Mails, die zeigen, dass Zahnärzte bisweilen hohe Rabatte von 40 Prozent oder mehr bekommen. Beim Weiterverkauf an den Patienten schlagen Ärzte teils mehr als 100 Prozent auf. Der Kieferorthopäde Dr. Madsen kennt noch weitere Tricks seiner Kollegen, um die Einnahmen zu optimieren. Etwa: die Behandlung künstlich in die Länge zu ziehen. Er zeigt uns Gebiss-Abdrücke einer Patientin, die von einem anderen Kieferorthopäden behandelt wurde. Sie zeigen: Die Zahnfehlstellung war nach wenigen Monaten behoben, aber der Zahnarzt setzte für viel Geld weiter Zahnspangen ein – ohne dass es etwas brachte.

O-Ton Dr. Henning Madsen, Kieferorthopäde: "Der Kollege hat allerdings danach 5-6 Jahre weiterbehandelt und wie man bei diesen drei Folgemodellen sieht ohne auch nur einen einzigen Millimeter Zahnbewegung. Das ist ein extremes Beispiel, aber unser System lädt dazu ein."

Anders als etwa das System in Österreich. Dort dauert eine Spangenbehandlung nur 26 Monate, in Deutschland hingegen 42 Monate. Trotzdem haben die Kinder in Österreich keine schieferen Zähne. Was ist anders? Österreich hat eine Pauschale für Zahnspangen eingeführt, jeder Zahnarzt bekommt einen Festbetrag für die Gesamtbehandlung.

O-Ton Prof. Niefergall, Krankenkasse Österreich: "Die Pauschalierung hat bewirkt, dass die Behandlungsdauer sich deutlich, sprich erheblich reduziert hat. Hatten wir früher mindestens drei Jahre Behandlungsdauer, gerade bei den mittelschweren und schweren Fällen natürlich auch vier, fünf oder noch mehr Jahre, haben wir derzeit die man eine Behandlungsdauer im Schnitt, die man von 26 Monaten."

Und in Österreich herrscht das Alles- oder Nichts Prinzip, wer eine teure Zahnspange will, muss alles selbst bezahlen – die Kasse zahlt dann nichts dazu. Spezialspangen gibt es daher fast gar nicht. Die Interessenvertretung: Der Berufsverband der deutschen Kieferorthopäden lehnt ein Interview zu den Missständen ab, sieht aber offenbar keine Fehler im System. Sie schreiben: "Versicherten steht es jederzeit frei, sich für eine zuzahlungsfreie Behandlung zu entscheiden". "Das in Deutschland herrschende System (…) halten wir für patientenfreundlicher."

Dr. Madsen sieht das anders. Die Einzelleistungsvergütung in Deutschland setze Fehlanreize. Also: umso mehr einzelne Leistungen der Arzt abrechnet, umso mehr verdient er.

O-Ton Henning Madsen, Kieferorthopäde: "Wenn Ärzte pauschal honoriert werden, dann haben sie eher das Interesse, mit wenig Aufwand zum Ziel zu kommen. Und das ist ja auch im Sinne des Patienten und des Gesundheitssystems gut. Bei der Einzelleistungsvergütung ist immer, gewisse Selbstkorruption in Richtung viele Leistungen zu erbringen."

Der Kindermund - für viele Kieferorthopäden eine Goldgrube. Die Kasse und Eltern zahlen – es ist wohl Zeit für eine Reform.

Beitrag: Johannes Edelhoff, Markus Grill, Paline Milling
Kamera: Björn Atzler, Florian Kössl, Jan Littelmann
Schnitt: Philiipp Vittali, Julian Schöneich

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Das Erste | 16.05.2024 | 21:45 Uhr

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