Sendedatum: 08.02.2024 21:45 Uhr

Augenärzte: Profit auf Kosten der Patienten? (Manuskript)

von Christian Baars, Ann-Brit Bakkenbüll, Petra Blum, Brid Roesner

Panorama v. 08.02.2024

Anmoderation Anja Reschke: "Wenn wir über das Verhältnis Patient Arzt sprechen, dann haben wir oft ein romantisiertes Bild im Kopf. Der Arzt, die Ärztin, die mit viel Zeit und Zugewandtheit nur und allein um das Wohlergehen und Gesundwerden des Patienten bemüht ist. Und ganz viele Ärzte sind auch so. Oder besser: wollen auch so sein. Nur lässt das System das immer weniger zu. Denn mittlerweile werden immer mehr Arztpraxen mit Investorengeld aufgekauft, und die wollen für ihr Investment Profit sehen. Der selbständige Arzt wird dann zum Angestellten einer Praxiskette. Und muss eine Renditeerwartung erfüllen. Wie genau das laufen kann, zeigen uns Christian Baars, Ann Brit Bakkenbüll und Brid Roesner."

Wir bekommen einen Brief - anonym, ohne Absender. Darin eine SD-Karte mit einem Bild- und Tonmitschnitt. Offensichtlich von einem Online-Seminar für Ärzte. Und den Referenten im Mitschnitt, den kennen wir schon aus einer früheren Recherche. Kaweh Schayan-Araghi. Wir kennen ihn aus Nordhessen, wo wir ihn vor etwas mehr als einem Jahr besucht haben. Er hat hier aus einer kleinen Praxis einen großen Konzern geschaffen - mit dem Geld von Finanzinvestoren. Er erzählt uns, dass sein Unternehmen Artemis deutschlandweit Praxen aufgekauft hat - heute sind es mehr als hundert Standorte und über 300 Ärzte.

O-Töne (aus Panorama 2022)
Panorama:
"Und wie viele Operationen machen Sie dann noch?"

Kaweh Schayan-Araghi, Ärztlicher Direktor Artemis: "Deutlich über 100.000, alles zusammen."

Panorama: "Deutlich über 100.000?"

Kaweh Schayan-Araghi, Ärztlicher Direktor Artemis: "Ja. Verschiedene Eingriffe."

Kaweh Schayan-Araghi ist Miteigentümer und Ärztlicher Direktor der Artemis-Kette. Außerdem sitzt er im Vorstand des Berufsverbandes der Augenärzte. Schon damals gab es den Vorwurf, bei den Praxis-Ketten gehe es vor allem um Profit.

O-Ton (aus Panorama 2022) Kaweh Schayan-Araghi, Ärztlicher Direktor Artemis: "Keiner ist darauf aus, schnell sozusagen schnelle schnelles Geld zu machen, salopp gesagt, sondern das Unternehmen wird dann wertvoller, wenn der Ruf gut ist, wenn die Qualität gut ist und nachhallt und eine Nachhaltigkeit in Aussicht steht."

Geht es wirklich nur um Qualität und Nachhaltigkeit? Der Mitschnitt dokumentiert eine Schulung für Ärzte, die bei Artemis arbeiten. Ihr Chef, Schayan-Araghi, hält den Vortrag zusammen mit der Abrechnungsexpertin des Unternehmens. Vieles verstehen wir zunächst nicht - Zahlen, Daten, Tabellen. Aber klar ist: Es geht ums Geld - und das immer wieder. Aus juristischen Gründen haben wir den Vortrag von Schayan-Araghi nachsprechen lassen.

Ausschnitt Seminar, Kaweh Schayan-Araghi: "Dann können wir so viel abrechnen, wie für einen Kassenpatienten das ganze Quartal. Wenn Sie diese drei Zauberzeilen da reinschreiben, können wir eine Menge mehr abrechnen."

Ein "Zauberwort" im OP-Bericht und schon kann etwa ein Chirurg erheblich mehr abrechnen.

Ausschnitt Seminar, Kaweh Schayan-Araghi: "Das macht den Unterschied von 1.000 Euro für Ihre Bemühungen aus. Das ist wichtig."   

Andere Tricks wirken auf den ersten Blick harmlos.

O-Töne
Panorama-Autor:
"Das sind ja eher so kleine Beträge 15 Euro, 16 Euro."

Autorin: "Ja, stimmt. Aber ich glaube es lohnt sich trotzdem hinzuschauen. Weil, wenn wir uns überlegen, wie groß Artemis ist. Tatsächlich ist und ich könnte mir schon vorstellen, dass sie mehrere 10.000 Privatpatienten im Quartal haben. Und wenn man das dann alles zusammenzählt, kommt dann wohl schon eine relativ hohe Millionensumme raus."

Ein Beispiel für so einen 16-Euro-Trick: Schayan-Araghi fordert im Mitschnitt dazu auf, einen bestimmten Sehtest bei allen Privatpatienten zu machen - und zwar möglichst bei jedem Besuch.

Ausschnitt aus Seminar, Kaweh Schayan-Araghi: "Das ist so schnell verdientes Geld. Das ist halt ungerecht, das ist so, aber wenn es mal zu unseren Gunsten ungerecht ist, dann wollen wir das auch gern ausnutzen."

Schnell verdientes Geld mit einem Sehtest. Aber ist er medizinisch sinnvoll? Eine eigenständige Ärztin, die nichts mit der Kette zu tun hat, will uns helfen und erklärt den Test.

O-Töne
Augenärztin:
"Achten Sie mal drauf, während die den Punkt fixieren, ob die Linien dann gerade oder krumm sind."

Patientin: "Die sind alle gerade."

Die Augenärztin sagt uns, sie mache den Test nur bei Patienten ab 50 und wenn es Vorerkrankungen in der Familie gibt.

O-Töne
Panorama:
"Sonst macht es eigentlich keinen Sinn, das jedes Jahr wieder zu machen?"

Augenärztin: "Nein, so sehe ich das."

Bei einem anderen Test aus dem Seminar geht es um die Pupillenreaktion.

O-Ton Augenärztin: "Ich trenne mit der Hand beide Augen, dann beleuchte ich zuerst das eine Auge und schaue, wie die Pupille reagiert."

Eine Standard-Untersuchung, recht schnell gemacht. Kann sie dafür ein zusätzliches Honorar verlangen?

O-Töne
Augenärztin:
"Eigentlich kann ich dafür nichts berechnen."

Panorama: "Das heißt, Sie würden da, wenn Sie einmal in die Pupillen leuchten mit der Taschenlampe, da würden Sie nichts extra abrechnen?"

Augenärztin: "Nö! Das haben wir nie gemacht."       

Ganz anders bei Artemis. Schayan-Araghi empfiehlt den Pupillentest extra in Rechnung zu stellen - mit rund 25 Euro. Räumt im Mitschnitt aber auch ein, das sei ungewöhnlich.

Ausschnitt Seminar, Kaweh Schayan-Araghi: "Das ist jetzt so ein bisschen, so ein kleines bisschen gedehnt interpretiert. Geb‘ ich gerne zu. Aber wir dürfen nicht vergessen: Wir reden hier über 28 Jahre gleiche Vergütung. Da darf man da und dort ein bisschen kreativ bei der Auslegung der Ziffer."

Und kreativ sollen die Ärzte auch bei der Operation des Grauen Stars sein: Wahrscheinlich operieren sie jedes Jahr tausende Privatpatienten. Bei diesen Operationen sollen die Ärzte nun angeben, dass diese besonders aufwändig und schwierig waren.  

Ausschnitt Seminar, Kaweh Schayan-Araghi: "Auch wenn Sie es vielleicht nicht als so schwierig empfinden sollten, muss man da ein bisschen kreativ sein. Und weil man da nicht immer dran denkt, haben wir für die wesentlichen Standard-Situationen Punkte aufgeschrieben, die man aufschreiben kann."

Denn für jede OP gibt es dann fast 250 Euro mehr als für den Regelfall vorgesehen ist.

Ausschnitt Seminar, Kaweh Schayan-Araghi: "Das ist unser Weg, wie wir uns so ein bisschen den Inflationsausgleich wiederholen können."

Aber machen seine Ärzte das mit? Halten sie sich an solch fragwürdige Anleitungen? Wir treffen einen Augenarzt, der bei Artemis an einem solchen Seminar teilgenommen hat. Er möchte nicht erkannt werden, befürchtet persönliche Nachteile. Der Facharzt bestätigt uns, dass bei Privatpatienten einige Untersuchungen offensichtlich nicht aus medizinischen Gründen gemacht werden, sondern wegen des Geldes. Dazu sei er von seinen Vorgesetzten angehalten worden, sagt er.

O-Ton Arzt: "Wir haben den Druck zu spüren bekommen. Und auch, wenn uns das als Angestellte eigentlich egal sein könnte. Und da fand ich persönlich, eine Manipulation der Rechnungen ist nicht der richtige Weg. Da steht mein Name als Leistungserbringer und deshalb wollte ich das nicht und so geht das einigen Kolleginnen und Kollegen. Und andere, die eher undifferenziert sind oder sich dafür auch nicht interessieren, die machen das halt."

Ärzte, die auf Anleitung ihres Chefs Abrechnungen in die Höhe treiben. Wie ist das juristisch zu bewerten? Wir zeigen einige Ausschnitte aus dem Seminar dem renommierten Medizinrechtler Professor Andreas Spickhoff.

O-Ton Andreas Spickhoff, Professor für Medizinrecht LMU München: "Das ist ein Seminar, das teilweise Abrechnungsmaximierungsmöglichkeiten ausschöpft, aber zu einem wesentlichen Teil auch darüber hinausgeht und Abrechnungen den Ärztinnen und Ärzten empfiehlt, die eindeutig nicht mit der Gebührenordnung für Ärzte kompatibel sind und die dann eben, wenn man das so praktiziert, eindeutig dazu führen, dass ein Betrug vorliegt, ein Abrechnungsbetrug, und zwar einer in einem sogenannten besonders schweren Fall."

Mutmaßlich ein Millionenschaden. Wir haben die größten privaten Krankenversicherungen gefragt, ob sie von systematisch überhöhten Abrechnungen bei einer großen Arztkette wissen. Zu konkreten Fällen wollen sie sich nicht äußern. Nur allgemein: Natürlich würden sie Abrechnungen überprüfen. Uns überzeugt das nicht ganz.

Wir treffen Dorothea Röhl. Sie kennt sich bestens aus, als ehemalige Staatsanwältin mit dem Schwerpunkt "Abrechnungsbetrug".

O-Ton Dorothea Röhl, ehemalige Staatsanwältin: "Also aus meiner Erfahrung weiß ich, dass die privaten Krankenkassen auch nicht besonders rege sind, Anzeige erstatten oder Hinweise geben."

Die ehemalige Staatsanwältin räumt ein: Ermittlungen in solchen Fällen seien sehr aufwändig. Aber hätte sie dieses Seminar auf den Tisch bekommen, wäre sie aktiv geworden.

O-Ton Dorothea Röhl, ehemalige Staatsanwältin: "Ne Riesenschweinerei eigentlich, dass das auf diese Art und Weise unglaublich Geld generiert wird und tatsächlich der Nachweis wahnwitzig schwierig ist."

Auf eine Interviewanfrage hat Kaweh Schayan-Araghi nicht reagiert. Sein Unternehmen teilt aber schriftlich mit: "Die Artemis-Gruppe handelt in Übereinstimmung mit geltenden Gesetzen." (Quelle: Artemis) Und weiter: "Erbrachte Behandlungsleistungen sind korrekt zu dokumentieren." (Quelle: Artemis). Die Ärzte entschieden allein aus medizinischen Gründen, wie behandelt wird. "Gegenteilige Behauptungen sind falsch und entbehren jeder Grundlage." (Quelle: Artemis)

Tatsächlich wissen wir nicht, was konkret abgerechnet wird. Und auch nicht, wie es in anderen großen Arztketten abläuft. Aber klar ist: Finanzinvestoren erwarten eine hohe Rendite. Sie kaufen Praxen, weil sie Gewinn machen wollen - und den zahlen die Versicherten.

Bericht: Christian Baars, Ann-Brit Bakkenbüll, Petra Blum, Brid Roesner
Kamera: Willem Konrad, Andrzej Król, Michael Reithmeier
Schnitt: Marc Peschties

 

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 08.02.2024 | 21:45 Uhr

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