Notfall Kinderklinik: Wenn kein Bett frei ist

Stand: 03.08.2023 06:00 Uhr

Viele Kinderkliniken sind überlastet - selbst in schweren Fällen müssen Kinder und Eltern mitunter um einen freien Behandlungsplatz bangen.

von Brid Roesner, Isabel Ströh und Isabel Lerch

Prof. Florian Hoffmann, Oberarzt am Kinderspital München. © NDR
Florian Hoffmann kämpft am Kinderspital München mit vollen Betten. So oder so ähnlich geht es vielen Kinderkliniken in Deutschland.

"Acht von acht - dabei bleibt es auch?", fragt Florian Hoffmann, Oberarzt auf der Kinderintensivstation der Uniklinik München. Er steht mit seinem Team vor einer Tafel, die zeigt, wie viele Kinderintensivbetten aktuell belegt sind: Alle voll.

Es ist Juni in München. Die Infektwellen sind vorüber und trotzdem ist die Kinderintensivstation des Dr. von Haunerschen Kinderspitals voll belegt. Es sei zwar sehr viel entspannter als im Winter, sagt Hoffmann, "da ist es nicht so, dass sich die Kinder überall stapeln, aber es ist trotzdem so eng in Kliniken, dass wir die Kinder nicht immer da unterkriegen, wo wir sie haben wollen." Eigentlich sollten sie in den ruhigeren Sommermonaten mindestens ein Bett frei haben, aber die Kindermedizin sei von der Bettenkapazität insgesamt ganz nach unten gefahren, erklärt der Intensivmediziner. 

VIDEO: Notfall Kinderklinik: Wenn kein Bett frei ist (29 Min)

Kindermedizin rechnet sich nicht

Kindermedizin ist aus Sicht vieler Kliniken meist ein Minusgeschäft. Die Versorgung von Kindern ist zeit- und personalintensiv. Das wird auch deutlich, als in München plötzlich ein 13-jähriger Junge nach einem Verkehrsunfall eingeliefert wird: "Rund um die Uhr einen Schockraum zu betreiben, wo sich ein Kinderchirurg, ein Neurochirurg, ein Kinderintensivmediziner, ein Kinderanästhesist jederzeit innerhalb von Minuten treffen und dann für ein kritisch krankes Kind da sind, das ist extrem kostenintensiv", sagt Hoffmann. Hinzu kommt ein ohnehin bestehender Personalmangel in der Pflege. Immer mehr Arbeit verteilt sich so auf immer weniger Schultern. 

Versorgung eines schwerverletzten Kindes im Kinderspital München. © Screenshot
Enorm aufwändig: Versorgung eines schwerverletzten Kindes im Kinderspital München.

Überlastung ist für viele Alltag

Das hat Auswirkungen für Personal und Patienten. Nach einer nicht repräsentativen Umfrage unter Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegefachkräften mit 630 Teilnehmern geben rund 40 Prozent an, dass es aufgrund der hohen Arbeitsbelastung in Kinderkliniken schon einmal zu einer Patientengefährdung gekommen ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Umfrageteilnehmer in einer kleinen, mittelgroßen oder einer Universitätsklinik arbeiten.

Viele der befragten Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegefachkräfte schreiben, dass es an Personal fehle - nicht nur im pflegerischen, sondern auch im ärztlichen Bereich. Die Folge: Kinder könnten nicht zeitgerecht und nicht gründlich genug behandelt werden. Darüber hinaus komme es immer wieder zu einer Fehl- oder Überdosierung von Medikamenten.

Die Arbeitsbelastung in den Kinderkliniken ist nach diesen Angaben sehr hoch: 34 Prozent aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer gaben an, mehrmals pro Woche über ihre persönliche Belastungsgrenze hinauszugehen.

Weitere 41 Prozent tun dies demnach mehrmals im Monat.Zudem sagen fast zwei Drittel der Teilnehmer, dass sich ihre persönlichen Arbeitsbedingungen in den vergangenen fünf Jahren verschlechtert haben.

An der nicht repräsentativen Umfrage haben insgesamt 630 Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte aus Kinderkliniken teilgenommen. Vergleichbare Umfragen, die sich ausschließlich mit der Pädiatrie befassen, gibt es bislang kaum.

Auch Klinikleitungen schlagen Alarm

Gesine Hansen, Professor, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Kinderheilkunde © Medizinische Hoschschule Hannover
Für Gesine Hansen spielt die Ökonomie eine zu große Rolle im Gesundheitssystem.

Wie ernst die Lage ist, zeigt auch eine Diskussion, die Panorama mit sechs Leiterinnen und Leitern der größten Kinderkliniken aus Hannover, Göttingen, Berlin, Essen, Leipzig und München geführt hat. Sie bestätigen, dass ihre Mitarbeitenden ausbrennen. Nicht nur Pflegekräfte, auch Ärztinnen und Ärzte verlassen demnach zunehmend die Kindermedizin. Die Lage spitzt sich seit zehn Jahren zu, erklärt Gesine Hansen, Professorin für Kinderheilkunde an der Medizinischen Hochschule Hannover: "Im Gesundheitssystem stehen die Kinder tatsächlich eher in den letzten Rängen, weil Kindermedizin nicht wirtschaftlich ist und die Ökonomie in dem aktuellen Gesundheitssystem einfach eine sehr große Rolle spielt."

Die Gruppe ist sich einig: es brauche eine grundlegende Strukturreform, die die Bedürfnisse von Kindern in den Mittelpunkt rückt und honoriert. "Wenn das nicht gelingt, wird es dazu führen, dass aufgrund des wachsenden ökonomischen Drucks immer mehr Kliniken vom Netz gehen, aber unstrukturiert. Das heißt, es könnte auch eine treffen, die man eigentlich braucht", befürchtet Professor Marcus Mall von der Charité in Berlin.   

Lauterbach räumt Unterfinanzierung ein

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). © dpa Foto: Jörg Carstensen
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach räumt die Unterfinanzierung ein und will Sonderzahlungen ermöglichen.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bestätigt gegenüber Panorama, dass die Kindermedizin chronisch unterfinanziert sei. Im Rahmen der Krankenhausreform soll sie zukünftig Sonderzuschläge erhalten. Wie hoch diese sein werden, ist jedoch noch unklar.

Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) kritisiert auf Panroama-Nachfrage, dass die Krankenhausreform nicht zu Lasten der Beitragszahlenden gehen dürfe, die bereits jetzt den Löwenanteil der Krankenhausfinanzierung stemmten.

Florian Hoffmann von der Uniklinik München engagiert sich politisch in der Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Es braucht kurzfristige Strukturveränderungen, sagt er, etwa eine bessere Bezahlung von Pflegekräften oder eine bessere Vernetzung der Kinderkliniken untereinander. Denn: "Wenn ich auf das Ende der Sommerferien in Bayern schaue, da kriege ich schon ein bisschen Bauchweh, was der nächste Winter wieder bringen wird."

 

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Das Erste | Panorama | 03.08.2023 | 21:45 Uhr

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