Studie: "Babyboomer" wollen immer früher in Rente
68 Prozent der Arbeitnehmer aus den geburtenstarken Jahrgängen der Babyboomer planen in Frührente zu gehen.
Die repräsentative Studie "lidA - leben in der Arbeit" zeigt: Der Trend zur Frührente ist besonders unter den Babyboomern ungebrochen. Das gefährdet die Finanzierbarkeit der Renten und verschärft den Arbeitskräftemangel.
Jeder dritte Angestellte in Deutschland kommt aus den sogenannten Babyboomer-Jahrgängen. Das sind die Menschen, die zwischen 1959 und 1969 geboren wurden. Nun zeigt eine Studie: immer mehr Babyboomer wollen in Frührente gehen. Warum wollen sie nicht mehr arbeiten? Und was bedeutet es für den Arbeitsmarkt und das Land, wenn der größte Teil der Bevölkerung früher raus will aus dem Job?
Joachim van Beuning sitzt auf seinem Motorrad - eine BMW 1200 GS. Hinter ihm reihen sich sieben weitere Maschinen ein, in Kolonne gleiten sie über die sanften Hügel der Holsteinischen Schweiz, Richtung Ostsee. Für die Truppe ein perfekter Tag. "Hier am Strand zu sitzen und dann mit Motorradfahrern, die die gleichen Interessen haben - das ist schon einfach genial", schwärmt van Beuning.
Bessere Work-Life-Balance als Frührentner
Van Beuning ist Frührenter, seit er 64 Jahre alt ist. Motorradfahren war lange nur ein Hobby für ihn. Als Guide für Motorradtouren wie hier an der Ostsee verdient er sich etwas dazu. Wie viel er arbeitet, entscheidet er selbst. Über 30 Jahre lang war er angestellter Fahrlehrer. Ein regulärer Job mit 40 Stunden pro Woche.
Das war ihm irgendwann zu viel: "Als Fahrlehrer habe ich eine Belastung gehabt. Und man fängt doch gewöhnlich um mittags an, hört dann um neun, zehn Uhr auf. Das ist natürlich absolut schädlich für die Familie, für das soziale Umfeld."
"Es darf jetzt auch ein bisschen Pause sein."
Viele, die hier mitfahren, gehören zu den geburtenstarken Jahrgängen, den Babyboomern, die jetzt um die 60 Jahre alt sind. Karin Klauszen ist 64, arbeitet als Optikerin, und auch sie möchte in Frührente gehen: "Ich habe jetzt 46 Jahre gearbeitet und gehöre zu denen, die lange arbeiten. Da hab ich so für mich beschlossen, es darf jetzt auch ein bisschen Pause sein."
Der Trend zur Frühverrentung ist besonders unter den Babyboomern ungebrochen. 68 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wollen spätestens mit 64 Jahren in Rente gehen, zeigt die repräsentative Studie "lidA - leben in der Arbeit", die dem ARD-Magazin Panorama vorliegt. Fachleute bewerten diesen Trend als alarmierend, da er sowohl den Arbeitskräftemangel verschärft als auch die Finanzierbarkeit der Renten gefährdet.
"lidA" ist die größte und wichtigste Studie in diesem Bereich, da sie seit 2011 regelmäßig mehrere tausend Erwerbstätige aus den Geburtenjahrgängen 1959 bis 1969 dazu befragt, wie lange sie arbeiten wollen und können.
Frühverrentung als neue Norm
"Unser Hauptbefund ist, dass unter den Babyboomern eine ausgeprägte Kultur des Frühausstiegs herrscht", sagt Studienleiter Prof. Hans-Martin Hasselhorn: "Der frühe Erwerbsausstieg ist die Norm und viele Personen, die 63, 64 oder 65 Jahre alt sind und noch in Arbeit stehen, kennen es, dass man sie ganz erstaunt fragt: 'Was, du arbeitest noch?'"
Die meisten der Befragten geben an, dass sie mit 64 nicht mehr arbeiten wollen, immerhin 30 Prozent wollen sogar nur bis 62 arbeiten. Dazu passen aktuelle Zahlen vom Bundesinstitut für Bevölkerungsentwicklung, die ebenfalls zeigen, dass in den letzten Jahren vermehrt Menschen vor der Regelaltersgrenze in den Ruhestand gehen und hierfür Rentenabschläge in Kauf nehmen.
Auffällig ist, dass unter den jüngeren Babyboomer-Jahrgängen sogar noch mehr Menschen früh in Rente gehen wollen. Wollten unter den 1959 Geborenen noch 40,1 Prozent bis 64 Jahren arbeiten, sind es unter den 1965 und 1969 Geborenen nur noch ca. 30 Prozent. "Der häufigste Grund ist, die Menschen möchten mehr freie Zeit haben", erklärt Hasselhorn. Laut Studie ist dieser Trend unabhängig davon, wie stark die körperliche Belastung im Job gewesen ist. Auch Menschen, die keiner physisch belastenden Tätigkeit nachgegangen sind, wollen früh in Rente.
Geringverdiener arbeiten am längsten
Selbst ein erfüllender Beruf und gutes Einkommen führen nicht dazu, länger arbeiten zu wollen. Die Bereitschaft, lange zu arbeiten, ist in der Gruppe mit dem geringsten Einkommen am höchsten. Dabei hat diese Gruppe mit Abstand die kürzeste Lebenserwartung von allen Einkommensgruppen. Bei dieser Gruppe ist das länger arbeiten wollen offenbar eher ein "länger arbeiten müssen".
Den Trend beobachten auch Arbeitgeber mit Sorge. Hans-Jürgen Vollert leitet in dritter Generation das Familienunternehmen Vollert Anlagenbau, verkauft unter anderem Rangier-Roboter in die ganze Welt. Schon jetzt fehlen ihm die Fachkräfte. Regelungen wie unbegrenzte Hinzuverdienstmöglichkeiten für Rentnerinnen und Rentner, die seit Anfang des Jahres gelten, ziehen bei seinen Mitarbeitenden nicht.
"Wenn wir fragen: 'Mensch, möchtest du nicht noch vielleicht ein, zwei Jahre was machen?', dann kommt schon oft ein Nein. Und viele sagen einfach finanziell für sich: das passt. Die Freizeit ist einfach unheimlich wichtig", bedauert Vollert. Nur ein einziger seiner Mitarbeiter habe zugesagt, länger zu arbeiten.
Drohende Konsequenzen
Die Konsequenzen für das Rentensystem werden in den kommenden Jahren massiv sein, so Prof. Monika Schnitzer, Vorsitzende des Sachverständigenrates Wirtschaft. Schon jetzt fließt etwa ein Viertel des Bundeshaushalts als Zuschuss in die Rentenkasse.
Laut Schnitzer müsse die Politik nachjustieren: "Was man vorhat, ist ja tatsächlich, Beitragssatz zu stabilisieren, Rentenniveau zu stabilisieren, auch das Renteneintrittsalter nicht weiter zu erhöhen. Kann das funktionieren? Nur dann, wenn der Zuschuss, der aus dem Bundeshaushalt kommt und aus Steuern finanziert wird, immer größer wird." Das sei Geld, das dann an anderer Stelle fehlen wird. "Die Investitionen in die Infrastruktur, die Investitionen in Klimaneutralität. Die Investitionen, die wir für Digitalisierung brauchen - all die großen Themen, dafür wird kein Geld mehr da sein", befürchtet Schnitzer
Bundesministerium für Arbeit und Soziales sieht kein Problem
Zuständig für die Rente ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Auf die Frage, wie das Rentensystem auf Dauer finanziert werden soll, antwortet das Ministerium schriftlich: "Fakt ist, dass die gesetzliche Rentenversicherung finanziell sehr gut aufgestellt ist. Entscheidend für diese günstige Entwicklung ist der sehr stabile Arbeitsmarkt, weil es so viele versicherungspflichtige Beschäftigte gibt wie nie zuvor."
Neue Maßnahmen gegen den Trend zur Frührente plant das Ministerium aktuell offenbar nicht. Wie eine Modellrechnung der "Stiftung Finanztest" zeigt, haben die letzten Beschlüsse der Bundesregierung die Frührente sogar noch attraktiver gemacht.
Dass es Handlungsbedarf gibt, ist der Politik übrigens schon lange bekannt. Schon vor zwei Jahren warnte der wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums die Koalition: "Der Beirat rät davon ab, in der politischen Diskussion die Illusion von langfristig gesicherten Haltelinien weiter aufrechtzuerhalten."