Nach Panorama- und "Flip"-Recherche: Lidl zieht sich aus Myanmar zurück

Stand: 07.12.2023 06:00 Uhr

Der Discounter Lidl vermarktet Kleidung als nachhaltig und fair, sogar mit staatlichem Gütesiegel. Produziert wird sie in der Militärdiktatur Myanmar - Arbeiterinnen dort berichten von Schlägen und Drohungen. Panorama und "Flip" sind der Spur eines Lidl-Kleids für 8,99 Euro gefolgt.

von Karolin Arnold, Johannes Edelhoff, Jennifer Johnston, Milan Panek und Christian Salewski

 

VIDEO: Nach Panorama-Recherche: Lidl zieht sich aus Myanmar zurück (13 Min)

Die Lidl-Mitarbeiterinnen sind aufgeregt. Wie Models posieren sie in einem Werbespot, strahlen in die Kameras, schütteln Hände. Eine von ihnen erzählt, wie es dazu gekommen ist. Für die neue Lidl-Kollektion habe das Unternehmen Mitarbeiter für die Kampagne gesucht. "Und wir drei", so erzählt sie es im Spot, "durften dabei sein!".

Dann schwenkt die Kamera hinüber zu einer Stange, an der rote, gelbe und blaue Kleider hängen. "Was wir da tragen?", fragt das Mitarbeiter-Model. "Besonders nachhaltige Kleidung, die sogar vom 'Grünen Knopf' zertifiziert wurde." Im Spot treten dann noch die TV-Moderatorin Barbara Schöneberger und der Komiker Max Giermann auf, Schöneberger knipst Fotos und ruft: "Ja, zeigt mir, was drinsteckt in der 'Grünen Knopf'-Kollektion. Nachhaltigkeit will ich sehen!"

Das Logo des staatlichen Textilsiegels "Grüner Knopf" auf der Packung eines Lidl-Kleids © NDR
Das staatliche Textilgütesiegel sollte eigentlich besonders vertrauenswürdig sein.

Eines der von Lidl so offensiv als nachhaltig und fair beworbenen Kleidungsstücke ist ein Kleid der Eigenmarke Esmara. Es wurde im Juli in deutschen Märkten des Discounters und online für 8,99 Euro verkauft. Tatsächlich wurde es mit dem "Grünen Knopf" ausgezeichnet, dem staatlichen Textilsiegel der Bundesregierung für besonders sozial und ökologisch produzierte Kleidung. Eingeführt wurde es 2019 vom ehemaligen Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) als Reaktion auf das bisher größte Unglück in der Geschichte der Textilindustrie, den Einsturz der Fabrik Rana Plaza in Bangladesch mit mehr als 1.000 Toten. Aktuell verantwortet Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) den "Grünen Knopf". 

 

Nachhaltig produzieren in Myanmar?

Dem Etikett zufolge wurde das "nachhaltige" Lidl-Kleid in Myanmar hergestellt, einem Land, in dem seit dem Putsch 2021 eine Militärdiktatur herrscht und aus dem es zahlreiche Berichte über die gewaltsame Niederschlagung von Protesten gibt. Zudem werden immer wieder massive Arbeits- und Menschenrechtsverletzungen in Textilfabriken dokumentiert. Wie das mit Lidls Nachhaltigkeitsversprechen und einer Auszeichnung mit dem "Grünen Knopf" zusammenpassen soll, haben Panorama und das Medien-Startup "Flip" über Monate recherchiert. Sie konnten zeigen, dass es bei Lieferanten von Lidl-Kleidung in Myanmar wiederholt zu Arbeits- und Menschenrechtsverstößen kommt.

 

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Logo des Medien-Startups Flip © Flip

Flip: Lidl zieht sich zurück aus Myanmar

Am Beispiel eines Kleids der Lidl-Eigenmarke Esmara zeigen diese Recherchen, dass es bei Lieferanten von Lidl-Kleidung in Myanmar wiederholt zu Menschenrechtsverstößen kommt. extern

Gewalt, Drohungen, Druck gegen Arbeiterinnen

Arbeiterinnen und Gewerkschafterinnen berichten von Ausbeutung, Drohungen und körperlicher Gewalt. Panorama und "Flip" konnten mit Hilfe von Exil-Gewerkschafterinnen und in Gesprächen mit Arbeiterinnen die Situation in einigen der Lidl-Fabriken in Myanmar beleuchten. Die Arbeiterinnen und Arbeiter erheben schwere Vorwürfe - von einbehaltenem Lohn über Drohungen bis hin zu gewaltsamen Übergriffen. Außerdem würden Fabrikmanager dem Militär dabei helfen, Gewerkschaften zu unterdrücken. Eine Arbeiterin berichtet etwa: "Es kommt zu körperlicher Gewalt gegen Gewerkschaftsführer am Arbeitsplatz, aber häufiger sind Drohungen, wenn jemand Gewerkschaftsführer ist." Arbeiterinnen berichteten auch, vor Kontrollen genötigt zu werden, nicht die Wahrheit über die Arbeitsbedingungen zu sagen. 

Andere Marken zogen sich aus Myanmar zurück

ARD-Reporterin Jennifer Johnston im Gespräch mit Arbeiterinnen in Thailand. © NDR
Textil-Arbeiterinnen berichten von Gewalt und Drohungen.

Kürzlich stellten auch Sonderermittler der Internationalen Arbeitsorganisation ILO in einem Bericht die systematische Verfolgung von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern in Myanmar fest. Sie würden willkürlich verhaftet, entführt, misshandelt, gefoltert und ermordet. Wegen dieser katastrophalen Menschenrechtslage haben Unternehmen wie der Zara-Mutterkonzern Inditex, C&A, Tchibo und zuletzt auch H&M ihre Lieferantenbeziehungen zu Myanmar beendet oder angekündigt, dies zu tun.

Lidl wollte bleiben

Lidl aber lehnte das bisher ab. In einem im November veröffentlichten Fortschrittsbericht zum Bündnis für nachhaltige Textilien bekräftigt das Unternehmen, etwas kompliziert formuliert: "Wir haben uns und unsere Lieferanten verpflichtet, auch weiterhin keine Aufträge aus Myanmar zurückzuziehen." Lidl führt in dem Fortschrittsbericht mehrfach die Initiative ACT an, um das eigene Bemühen um unternehmerische Sorgfalt zu untermauern. ACT ist ein Zusammenschluss großer Textilmarken und Gewerkschaften, der sich für bessere Arbeitsbedingungen einsetzt.

Allerdings: ACT ist schon seit Dezember 2021 nicht mehr in Myanmar aktiv. Den Rückzug aus dem Land begründete ACT auf Nachfrage von Panorama und "Flip" damit, dass Gewerkschaften "unter den gegebenen Umständen nicht länger in der Lage sind, frei zu arbeiten".

Rückzug in Etappen bis 2025

Mit den Rechercheergebnissen konfrontiert, teilt Lidl nun mit, sich bis 2025 aus dem Verkauf von Textilien zurückzuziehen, die in Myanmar produziert wurden. Die aufgedeckten Zustände in einer Fabrik werde man untersuchen. "Bis zum Abschluss der Untersuchung werden keine neuen Aufträge für die Produktion von Lidl Ware an die Produktionsstätte vergeben." Man werde die Situation in Myanmar auch nach der Entscheidung zum stufenweisen Rückzug bis 2025 weiterhin sorgfältig beobachten und "verstärkte Maßnahmen zur Erfüllung unserer unternehmerischen Sorgfaltspflicht in Myanmar durchführen". 

Gewerkschafterin: Keine Arbeit, sondern Sklaverei

Khaing Zar Aung, Präsidentin der Gewerkschaft Industrial Workers Federation of Myanmar © NDR
Sklaverei, keine Arbeit: So nennt Gewerkschaftschefin Khaing Zar Aung die Zustände in den Textilfabriken.

Mit der plötzlichen Kehrtwende erfüllt Lidl nun auch Forderungen von Gewerkschaftern. Eine der wichtigsten Stimmen der myanmarischen Gewerkschaftsbewegung ist Khaing Zar Aung, Präsidentin der Gewerkschaft Industrial Workers Federation of Myanmar und zudem Vorstandsmitglied des Dachverbands Confederation of Trade Unions of Myanmar. Sie sagt, Arbeiterinnen in Myanmar würden systematisch ausgebeutet, seien Zwangsarbeit und anderen Verstößen ausgeliefert. "Wir nennen es nicht mehr Arbeit in der Bekleidungsindustrie, es ist Sklaverei." Sie fordert schon länger, dass internationale Konzerne und Modemarken ihre Produktion in Myanmar beenden, um nicht mitverantwortlich zu sein für die Tötungen und Verhaftungen in Myanmar. Eine Position, die auch von der globalen Dachgewerkschaft "Industriall" geteilt wird.

Bundesamt könnte Lidl-Kleidung überprüfen

Die Lieferkettenexpertin und Anwältin am European Center for Constitutional and Human Rights, Annabell Brüggemann, hat die Vorwürfe gegen Lidl bewertet und kommt zu dem Schluss: "Das spricht dafür, dass die Zulieferer von Lidl ihre menschenrechtlichen Pflichten nach dem Lieferkettengesetz verletzen." Das Bundesamt für Ausfuhrkontrolle (BAFA) könne als zuständige Kontrollbehörde grundsätzlich von Amts wegen solche Vorwürfe untersuchen. "Ich gehe daher davon aus, dass die Behörde sich diese Vorwürfe genau anschauen und eine Untersuchung einleiten sollte." Das BAFA erklärte dazu, dass zu Kontrollen einzelner Unternehmen keine Angaben gemacht werden könnten. Es sei aber möglich, Maßnahmen von Amts wegen einzuleiten: "Die Prüfung des Tätigwerdens von Amts wegen kann auch durch externe Hinweise wie etwa Presseberichte über mögliche Sorgfaltspflichtverletzungen eingeleitet werden."

Künast: "Grüner Knopf" hält sein Versprechen nicht

Renate Künast hält die Verpackung des Lidl-Kleids in der Hand. © NDR
Für Renate Künast (Grüne) hält das Gütesiegel nicht, was es verspricht.

Die Grünen-Politikerin Renate Künast hat die Entwicklung des Gütesiegels "Grüner Knopf" von Anfang an eng begleitet. Zur Frage, ob die Bundesregierung Kleidung aus Myanmar als besonders nachhaltig und fair auszeichnen sollte, sagt sie im Interview mit Panorama und "Flip": "Da gibt es keine Vereinigungsfreiheit, da können sich Leute gar nicht zusammentun und sagen: ich kämpfe jetzt für Arbeitnehmerinnenrechte oder gegen bestimmte Vorfälle in einer Fabrik. Da kann man nicht sagen: Hier produzieren wir für den 'Grünen Knopf'. Ich finde, der 'Grüne Knopf' verspricht etwas, was er nicht einhält."

Das scheint man im Entwicklungsministerium (BMZ) anders zu sehen. Auf Anfrage von Panorama und "Flip" antwortete eine Sprecherin: "Kein Land ist pauschal frei von Umwelt- und Menschenrechtsverstößen. Daher setzt sich das BMZ dafür ein, dass Unternehmen ihren unternehmerischen Sorgfaltspflichten nachkommen." Beim Einkauf von Waren in anderen Ländern müssten Unternehmen sicherstellen, dass diese dort sozial und ökologisch nachhaltig produziert werden. "Das gilt für alle Länder der Welt und natürlich auch für Myanmar. Wie Unternehmen diesen Sorgfaltspflichten nachkommen, müssen sie beim 'Grünen Knopf' nachweisen. Dies wird von unabhängigen Zertifizierungsstellen überprüft." 

Weder Barbara Schöneberger noch Max Giermann wollten sich auf Anfrage zu ihrer Rolle in der Werbung für das angeblich nachhaltige Kleid für Lidl äußern.

 

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Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 07.12.2023 | 21:45 Uhr

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