Übertherapie: Geld verdienen mit unheilbar Kranken
Sinnlose Operationen und Krebsbehandlungen: Übertherapie am Lebensende verursacht großes Leid. Stehen finanzielle Interessen von Kliniken über dem Patientenwohl?
Heinrich Schmidt* ist todkrank, als er auf die Palliativstation kommt. Seine Ehefrau ist bei ihm, hält seine Hand. Er kann kaum sprechen, kann nichts mehr essen, und der ganze Körper ist voller Wassereinlagerungen. Nebenwirkungen auch der Chemotherapie, die er seit kurzem bekommt. Der 77-Jährige hat Darmkrebs, der schon gestreut hat und unheilbar ist. Doch der behandelnde Onkologe hat eine erneute Chemotherapie verordnet.
"Wir haben da schon auf den Arzt vertraut. Wenn wir jetzt gedacht hätten, dass es sinnlos wäre, dann hätten wir das nicht gemacht", sagt seine Ehefrau im Rückblick. Aber inzwischen kommen ihr Zweifel, so schlecht wie es Heinrich Schmidt seit der Chemotherapie geht. Sie hätte sich gewünscht, dass die Ärzte von Anfang an mehr aufgeklärt und darüber gesprochen hätten, was die Therapie wirklich noch bringt. Aber es sei alles sehr schnell gegangen mit den Terminen.
"Das hätte man dem Patienten ersparen sollen"
Solche Fälle von Übertherapie am Lebensende erlebt Prof. Andreas Lübbe häufig auf seiner Palliativstation. "Es gibt immer wieder Situationen, in denen wir feststellen: Das hätte man dem Patienten ersparen sollen. Dann wäre es ihm besser gegangen, er hätte länger zu Hause bleiben können und vielleicht hätte er auch länger gelebt, wenn man ihm diese Therapie nicht zugemutet hätte." Natürlich würden Patienten nach jedem Strohhalm greifen, aber der Arzt trage die Verantwortung für die Behandlung. Palliativmediziner Lübbe kritisiert, Ärzte würden oft nicht ausreichend und ehrlich darüber aufklären, welches Therapieziel am Ende stehe.
Der behandelnde Onkologe von Heinrich Schmidt ließ über die Pressestelle des Klinikums antworten. Die schrieb: Ihre Ärzte handelten "nach den aktuellen wissenschaftlichen Standards". Dazu gehöre eine "umfassende Abstimmung und Abklärung mit Patienten und Angehörigen". Dies sei auch hier der Fall gewesen. Heinrich Schmidt ist ein paar Tage nach dem Gespräch verstorben. Auch die Chemotherapie hatte seinen Körper zu sehr belastet.
Keine Einzelfälle mehr
Die gesetzliche Krankenkasse DAK untersucht die Übertherapie am Lebensende schon seit längerem. "Es ist ein ernstzunehmendes Problem. Wir sind früher von Einzelfällen ausgegangen. Heute sehen wir, dass es eindeutig ein strukturelles Problem ist", sagt Sascha Graf, zuständig für das Versorgungsmanagement der DAK. Es treffe Patienten und deren Angehörige in einer sehr schwierigen Situation, in der sie über die Vorschläge der behandelnden Ärzte meist nur einseitig informiert seien. "Und auf der anderen Seite steht beispielsweise ein Krankenhaus, was ganz klar ein finanzielles Interesse hat mit der Behandlung, die durchgeführt wird", erklärt Graf. Steht dann immer das Patientenwohl an erster Stelle?
Ein Oberarzt packt aus
Der wirtschaftliche Druck in Kliniken bestimmt offenbar immer mehr das ärztliche Handeln. Das berichtet ein Oberarzt einer Klinik in Nordrhein-Westfalen, der anonym bleiben will. "Behandlungen, die sinnlos sind, sehe ich täglich in meiner Klinik. Es wird immer gesagt, wir müssen mehr Fälle behandeln, sonst müsse das Krankenhaus schließen und würde Personal abgebaut."
Es gebe kaum Abteilungen und Chefs, die ganz klar sagen: Nein, die Behandlung machen wir in diesem Fall nicht, weil sie nicht indiziert, also nicht notwendig ist. Man finde immer einen Grund, eine Behandlung durchzuführen, schildert der Oberarzt. Übertherapie - darüber werde nicht geredet. "Wenn man daran Kritik übt, heißt es dann, wie wäre es mit Aufhören? Sprich: Man soll die Klinik verlassen."
Überversorgung mit ECMO-Therapie?
Oft beginnt Übertherapie am Lebensende auf der Intensivstation, dort, wo dank der Apparatemedizin alles möglich scheint. Prof. Uwe Janssens, Chefarzt am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler, warnt seit Jahren gemeinsam mit Kollegen vor Überversorgung. Gerade die Corona-Pandemie habe ein Brennglas auf das Problem gerichtet. Während eigentlich ein Mangel an Klinikbetten beklagt wurde, fand offenbar an anderer Stelle eine Übertherapie statt: bei der sogenannten ECMO-Therapie - einer komplikationsreichen Behandlung mit einer Maschine, die die Funktion der Lunge übernimmt.
Doch aktuelle Studien zeigen: Es wurden offenbar zu viele Patienten an die ECMO angeschlossen, obwohl letztlich klar war, dass man ihr Leben damit nicht retten konnte. Das Verfahren sei in Deutschland in sehr vielen Kliniken in großem Umfang eingesetzt worden, berichtet Janssens. Deshalb lässt sich aus den Statistiken sogar eine höhere Sterblichkeit nach ECMO-Beatmung herauslesen: "Das hat dazu geführt, dass wir im Vergleich zum Ausland nicht große Erfolge hatten, sondern eher eine sehr hohe Sterblichkeit, also tatsächlich der Patient nicht gerettet werden konnte", so Prof. Janssens. Jede Klinik dürfe in Deutschland ECMO-Therapie anbieten, auch mit wenig Erfahrung, das sei völlig "unreguliert".
Die Behandlung bringt den Kliniken hohe Erlöse ein. "Es ist ein gutes Beispiel für eine Form der Überversorgung, die nachher tatsächlich dazu führt, dass nicht das Überleben besser wird, sondern ganz im Gegenteil schlechter", kritisiert Intensivmediziner Janssens.
Bei den Krankenkassen: kaum Maßnahmen
Doch warum sind die Krankenkassen nicht alarmiert angesichts der verbreiteten Übertherapie am Lebensende? Die DAK ist Vorreiter beim Identifizieren solcher Fälle. Aber das sei sehr schwierig, denn aus den Abrechnungsdaten ließen sich nur einzelne Verdachtsfälle herausfiltern, berichtet Sascha Graf von der DAK. Die Kasse bietet in solchen Fällen den Versicherten "Zweitmeinungsgutachten" an, durch einen unabhängigen Dienstleister. "Beispielsweise ein Patient, der an Blasenkrebs erkrankt ist: Da haben wir nur die Daten aus der Krankenhausbehandlung. Und wenn da eine gewisse Dauer oder Häufigkeit der Behandlung überschritten wird, dann ist das für uns ein Anzeichen, dass wir hier auf den Patienten zugehen." Doch nur wenige Krankenkassen haben das Problem auf ihrer Agenda.
Panorama hat zahlreiche gesetzliche Krankenkassen dazu angefragt. Die Techniker Krankenkasse teilt mit, sie habe bereits 2018 eine Studie vorgestellt: Es seien jährlich schätzungsweise mehr als 36.000 Menschen davon betroffen, "dass innerhalb der letzten 14 Tage ihres Lebens sehr belastende, mit schwerwiegenden Nebenwirkungen und Komplikationen verbundene Therapien neu begonnen werden". Konkrete Maßnahmen nennt sie allerdings nicht.
Über die Hälfte der angefragten Kassen antwortet: Man prüfe nicht auf Fälle von Übertherapie, man habe keine Einflussmöglichkeiten. Die AOK schreibt, eine systematische Erfassung von Übertherapie sei "kaum möglich". Eine kleinere Kasse kritisiert, das Problem sei bekannt, "ohne dass die Politik geeignete Gegenmaßnahmen ergriffen hätte". Die Krankenkassen könnten zwar einzelne Kliniken oder Ärzte im Nachhinein verklagen und Behandlungskosten zurückfordern, aber das sei zu langwierig und teuer, erklärt ein Kasseninsider gegenüber Panorama.
Tabuthema in der Politik
Intensivmediziner Prof. Uwe Janssens warnt vor den Folgen: "Diese Überversorgung, die wir auf der einen Seite haben, mündet natürlich in eine Unterversorgung an anderer Stelle, wo dann Ressourcen fehlen." Das Geld könnte man viel mehr für eine menschliche, zugewandte Versorgung einsetzen. Die Politik habe bei der Überversorgung viel zu lange weggeschaut, statt das Phänomen anzugehen. "Das ist eine der wichtigsten Aufgaben auch in dieser Legislaturperiode, dass es aufgegriffen wird und endlich mal benannt wird. Und das wäre der erste Schritt", so Janssens.
*Name von der Redaktion geändert.