Impfpflicht Gesundheit: Hintertür für Ungeimpfte
Wegen der Impfpflicht in Pflege und Medizin warnen Heimbetreiber, Klinikchefs und Gesundheitsämter zunehmend vor katastrophalen Folgen. Ist die Angst berechtigt?
Pflegekraft Amelie macht ihren Beruf gerne. Eine alte Dame hat ihr bei der Essensausgabe gerade ein Geschenk überreicht - als Dankeschön. Aber Amelie wird in dem Seniorenzentrum im bayerischen Schweinfurt wohl nicht mehr lange arbeiten.
Sie will sich auf keinen Fall impfen lassen. "Ich würde tatsächlich aufhören, weil ich mich vom Staat einfach nicht unter Druck setzen lassen möchte", sagt die 24-Jährige. Die alleinerziehende Mutter wäre dann arbeitslos. Aber Amelie hat Angst vor Nebenwirkungen, hält ihr Risiko für gering und glaubt den Medienberichten nicht, dass viele Ungeimpfte auf der Intensivstation liegen.
Heimleiterin Christiane Fischer ist jetzt schon verzweifelt. Die Stimmung in dem von der Diakonie betriebenen Heim kippt immer mehr. Denn ab dem 16. März gilt die einrichtungsbezogene Impfpflicht im Gesundheitswesen. Jeder dort - egal welche Tätigkeit sie oder er ausführt - müsse dann geimpft sein, glaubt sie. Wer es nicht ist, wird zumindest dem zuständigen Gesundheitsamt gemeldet. Im Moment wären das 21 Mitarbeiter. "Wenn die gehen, könnte ich den Betrieb nicht mehr so wie jetzt gewährleisten", so Heimleiterin Fischer. Sie müsste Heimplätze abbauen und Pflegebedürftige nach Hause schicken. Und mit diesen Befürchtungen ist sie nicht allein.
Verantwortung bei Gesundheitsämtern abgeladen
Auch Patrick Larscheid, Leiter eines Berliner Gesundheitsamtes, ärgert sich über das Gesetz. Denn die Umsetzung der Impfpflicht wurde den Gesundheitsämtern zugeschoben. Sie bekommen die ungeimpften Mitarbeitenden von den Einrichtungen gemeldet. Ein Tätigkeitsverbot können sie dann aber nicht automatisch aussprechen, sondern müssen jeden Einzelfall prüfen: Wie ist die Personalsituation des entsprechenden Heims, der Klinik? Wäre der Mitarbeiter dort wirklich verzichtbar? Erst nach dieser Ermessensentscheidung können sie das Verbot aussprechen.
Amtsarzt Patrick Larscheid fragt sich, wie das gehen soll - mitten in der Pandemiebekämpfung. Allein in seinem Berliner Bezirk sei man für 300 bis 500 Einrichtungen zuständig. "Wenn wir nüchtern die Größe unseres Bereichs betrachten, werden wir ganz bestimmt eine vierstellige Zahl von ungeimpften Personen genannt bekommen. Diese Einzelfälle zu bearbeiten, würde uns völlig überfordern. Das ist eine Zumutung", so Larscheid.
Viel Ermessen und Willkür bei der Freistellung
Gegenüber Panorama bestätigt das Bundesgesundheitsministerium, dass der Arbeitgeber keine Verpflichtung zur Freistellung habe. Nur das Gesundheitsamt entscheide "nach pflichtgemäßem Ermessen im Einzelfall" über Betretungs- und Tätigkeitsverbote und werde dabei "die Personalsituation in der Einrichtung berücksichtigen".
Wie sich die Politik das praktisch vorstellt, weiß Gesundheitsamtsleiter Patrick Larscheid allerdings bis heute nicht. Es sei eine ganz falsche Vorstellung, dass die Gesundheitsämter Kriterien hätten, um überhaupt sagen zu können, wie viele Menschen denn in einer Einrichtung arbeiten müssten. "Das ist eine wirklich unfassbare Situation, dass sich ein Gesundheitsamt hinstellen und zum Beispiel einer Klinik sagen soll, ach im Bereich der Geburtshilfe, da reicht auch die halbe Zahl des Personals. Das kann nicht ernst gemeint sein." Aber genau diese Situationen würde durch das Ermessen entstehen. "Da ist sicher viel Willkür dabei", warnt Amtschef Larscheid.
Die Impfpflicht ein Schein-Gesetz?
Auf die Hintertür im Gesetz spekulieren schon zahlreiche Landkreise, vor allem in den ostdeutschen Bundesländern. In Regionen mit niedriger Impfquote wie Bautzen oder Greifswald verkündeten bereits Landräte, man werde keine Beschäftigungsverbote aussprechen und die Impfpflicht nicht kontrollieren können.
Auch Klinikleiterin Angret Neubauer aus Sachsen-Anhalt hofft, dass ihr zuständiges Landratsamt ähnlich verfahren wird. In den zwei angeschlossenen Kliniken im Burgenlandkreis würden sonst ab dem 16. März rund 200 ungeimpfte Mitarbeitende fehlen. "Wenn ich 20 Pflegekräfte weniger habe, muss ich zwei Stationen schließen. Wenn ich keine Therapeuten mehr habe, zum Beispiel in der Physiotherapie, dann kann ich gewisse Behandlungen wie nach Schlaganfällen nicht mehr ausreichend gewährleisten", schildert sie ihre Situation.
Sie will dem Gesundheitsamt mit einer Auflistung deutlich machen, dass sie die Mitarbeiter dringend bräuchte und eine Ausnahme wichtig wäre. "Ich glaube fest, dass man Beschäftigungsverbote eben nicht ausspricht, und das ist auch meine ganz große Hoffnung, weil ich sonst nicht wüsste, wie wir eine flächendeckende Versorgung sicherstellen können."
Politik erstaunt über Lücken
Janosch Dahmen ist Arzt und Gesundheitspolitiker der Grünen. Er gehört zu den Miturhebern der einrichtungsbezogenen Impfpflicht. In der Politik kommen die Proteste langsam an. Von Panorama auf das Problem mit der Hintertür im Gesetz angesprochen, rudert Dahmen zurück: "Wenn der Eindruck entsteht, dass dieser Ermessensspielraum dazu führt, dass die Durchsetzung der Impfpflicht und damit der Patientenschutz gefährdet ist, müssen wir an das Gesetz noch einmal ran", so Dahmen. Dann müsse man nachschärfen.
Und die Warnung vor Versorgungsengpässen? "Wenn uns das Personal, was die notwendige Qualifikation hat, was die notwendige Impfung hat, nicht zur Verfügung steht, dann werden wir an den Stellen Betten nicht betreiben können." Allerdings habe es auch anderswo vor der Einführung der Impfpflicht die Behauptung gegeben, das Gesundheitssystem breche zusammen. "Wir wissen aus anderen europäischen Ländern, dass der vorher beklagte Effekt viel größer ist, als er sich dann faktisch dargestellt hat", so Dahmen.
Doch so einfach wird es nicht laufen. Das Gesetz wirft kurz vor dem Inkrafttreten viele Probleme auf, für die die Politik bisher noch keine konkrete Lösung hat.