Eine Frau mit Maske und Brille © Screenshot

Corona: Erste Allgemeine Verunsicherung

Stand: 23.04.2020 17:52 Uhr

Die Corona-Krise konfrontiert viele Menschen unserer Wohlstandsgesellschaft zum ersten Mal in ihrem Leben mit echten Existenzängsten: Alle sind gefährdet - und jeder ist eine Gefahr.

von Tina Soliman

Die Coronakrise konfrontiert viele Menschen in unserer Wohlstandsgesellschaft zum ersten Mal in ihrem Leben mit einer echten Angst um das eigene Leben und um das der Nächsten. Das Virus geht uns an die Kehle und legt das gesellschaftliche Leben lahm. Einschnitte in den Alltag, wie wir sie derzeit erleben, hat es vor allem in Westdeutschland seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben. Die Dichte in den Städten hat sich aufgelöst.

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Erstmals erfahren wir, wie radikal die Welt sich verlangsamen und der Lebensstileinschränken lässt. Jeder ist gefährdet - und jeder ist eine Gefahr. Wir versuchen, der Gefahr auszuweichen, indem wir andere Menschen meiden. Ein typischer Anpassungsprozess in Bedrohungs-Szenarien. Was bedeutet diese Erste Allgemeine Verunsicherung für unser Leben?

Praktiken der Distanzierung

"Die einschneidendste Veränderung ist, dass wir uns an Praktiken der Distanzierung gewöhnen, der physischen Distanzierung", sagt die Soziologin Teresa Koloma Beck, die am Hamburger Institut für Sozialforschung und an der Bundeswehr-Universität München lehrt. Nachvollziehbare Mechanismen der Gefahrenvermeidung seien dies, aber nicht unbedingt triviale Veränderungen. Umarmungen, Bindungen, das sind Grundbedürfnisse des Menschen - die plötzlich kaum mehr möglich sind. Die Menschen erleben sich im Alltag als Träger von Viren. "Wir reduzieren das Antlitz des Menschen auf einen organischen zellulären Prozess", erklärt der Philosoph Markus Gabriel von der Universität Bonn. "Deshalb glaube ich, dass das Social Distancing sehr tief eingreifen wird in unser Menschenbild."

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Teresa Koloma-Beck, Hamburger Institut für Sozialforschung und Bundeswehr-Universität Münchens © Screenshot
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Prof. Koloma Beck: "Das Bedrohungsszenario ist ähnlich wie im Krieg"

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Zumindest die nach dem Krieg geborenen Menschen erleben zum ersten Mal, dass jeder andere unser Leben gefährden kann. Da sei eine strukturelle Ähnlichkeit zu Bürgerkriegs-Szenarien oder innerstaatlichen Konflikten zu erkennen, hat die Soziologin Koloma-Beck erkannt, weil das Leben mit einer unsichtbaren Bedrohung genau die Herausforderung des Virus sei: "Interessanterweise ist das auch die Herausforderung in Krisengebieten, gerade in urbanen Zentren. Man fürchtet, dass jemand die Bombe unter der Jacke trägt. Der Moment der Unsichtbarkeit, der Unberechenbarkeit von Menschen, die ich nicht so genau kenne, ist also ähnlich. Der Unterschied in der Pandemie aber ist, dass tatsächlich jeder Träger des Virus sein kann, während man im Krieg eher Szenarien hat, wo man das Gefühl hat, da bin ich jetzt an einem sicheren Ort, und an diesem Ort muss ich mir jetzt keine Gedanken machen. Diese Art von Entlastung durch so ein räumliches Arrangement, die gibt es in der Pandemie nicht, weil jeder möglicherweise Träger des Virus ist, auch meine liebe Nachbarin, auch meine geliebte Großmutter, jeder!"

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Der Virus erreicht das Gehirn - auch bei Nichtinfizierten

Es ist eine Form des Kontrollverlusts, was zur Verunsicherung führt - in einer Welt, in der man glaubte, alles kontrollieren zu können. Für viele eine völlig neue Situation. Dabei ist es nicht die erste Katastrophe, die wir erleben. Es gab Terror und Seuchen, Aids, Sars. Es gab Wandel: Die Mauer wurde gebaut - und fiel. Es gab Naturkatastrophen wie den Tsunami am Zweiten Weihnachtstag 2004 an den Küsten des Indischen Ozeans. Es gab die Anschläge vom 11. September und Reaktorunfälle wie Tschernobyl. Doch oftmals fehlte bei diesen Katastrophen die persönliche Betroffenheit, weil der AKW-Unfall oder die Umweltkatastrophe weit weg waren. Es gab Distanzen. Corona dagegen trifft uns unmittelbar. Das Virus kriecht in die eigene Wohnung. Das macht Angst, weil wir damit keine Erfahrung haben. Wir versuchen Strategien zu entwickeln, um Lösungen zu finden. Das stresst. Unser Hirn läuft im Stress auf Hochtouren, erklärt der Hirnforscher Achim Peters von der Universität Lübeck. "Jetzt passieren Dinge im Körper des Einzelnen und kollektiv. Es gibt tatsächlich im Gehirn ein Areal, das diese Unsicherheit misst und aufzeichnet. Das heißt Anteriorer Cingulärer Cortex, kurz ACC, und es stellt fest, wie risikoreich die einzelnen Strategien sind, die man hat. Und wenn diese alle Hochrisiko haben und alle gleich schlecht sind, dann springt dieses Programm an, dieses Areal, und es setzt ein Unsicherheitsbeseitigungsprogramm in Gang. Wir nennen das Stress! Und das ist was Gutes!"

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Hirnforscher Peters unterscheidet zwei Gruppen von Menschen. Etwa die Hälfte fahre bei belastenden Dauersituationen hoch auf 180 und sei dauernd unter Strom, unter Stress, bis dann der Stress toxisch werde. Und die andere Hälfte der Menschen gewöhne sich daran, fahre runter, werde aber auch passiv. "Unter Habituierern wird man keinen finden, der Lösungen anbietet. Lösungen bieten vielmehr die an, die heiß laufen - die dann aber auch in Gefahr sind, toxischen Stress zu bekommen." Und toxischer Stress kann u.a. einen Herzinfarkt oder Schlaganfall verursachen. Gerät der Mensch unter Stress, schüttet der Körper Cortisol aus. Das Hormon habe eine entscheidende Wirkung auf das Gehirn: "Cortisol ist wichtig, um herauszufinden, ob eine Strategie so wertvoll ist, dass sie im Gedächtnis gespeichert wird oder ob man sie verwerfen soll, weil sie unbrauchbar ist. Und wenn das Cortisol hoch ist, dann heißt das, die Strategien, die jetzt da sind, sind alle Mist. Die gehen über Bord, werden im Zweifelsfall sogar gelöscht. Auf der anderen Seite: Wenn man eine Situation gemeistert hat, eine Prüfung bestanden hat, dann geht das Cortisol runter. Man geht abends ins Bett und schläft wie ein Held. Das Cortisol ist ganz niedrig. Das ist das optimale Cortisol, um die Strategien, die man als Prüfling vorher verwendet, hat abzuspeichern, denn die kann man in der nächsten Prüfung oder in der nächsten Lebenssituation wieder hervorholen."

In der Zeit der Pandemie hochzufahren sei überaus wichtig, erklärt Hirnforscher Peters: "Der Einzelne ist hyperwach, hat Sorgen, das heißt sein Verhalten wird vorsichtig, vermeidend - das ist klug. Wer sorglos ist, trifft sich, steckt andere an, sich selbst und andere. Das wird dann zum Problem. Wir brauchen die Wachheit!" Wir sollten auch genauer hinschauen, denn das unsichtbare Virus macht vieles, was schon lange nicht in Ordnung war, wie unter einem Vergrößerungsglas sichtbarer, etwa soziale Ungleichheit - der größte Unsicherheitsfaktor überhaupt.

"Globale Ordnung nicht mehr tragfähig"

Das Ausmaß sozialer Ungleichheit sei moralisch verwerflich, so Philosoph Gabriel, und er stellt gleich die entscheidende Frage: "Wie heben wir die Asymmetrien auf? Der erste Schritt, der jetzt kommen muss, ist die Unterbrechung der Asymmetrien in globalen Produktionsketten. Es kann nicht sein, dass wir dauerhafte billige Produkte in China oder Asien herstellen lassen, ganz zu schweigen von unserer Einstellung gegenüber Afrika. Das ist einfach nicht mehr tragfähig. Das ist in der globalen Ordnung sichtbar geworden. Und lokal gilt genau dasselbe: Auch in Deutschland haben wir Formen massiver sozialer Ungleichheit. Es gibt Armut in Deutschland. Die soziale Ungleichheit besteht nicht nur zwischen den reichen Wohlstandsnationen und dem Rest der Welt, den wir ausbeuten, sondern die haben wir auch intern."

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Unsicherheitserfahrung machen etwa Menschen, die kein regelmäßig hohes Einkommen haben oder keinen Zugriff auf Bildung. Und nicht wenige Menschen haben längst Vor-Erfahrungen von der Nicht-Verfügbarkeit der Zukunft. Der Unterschied in der Corona-Krise ist aber, dass dieser Zustand nicht mehr nur einige Milieus betrifft, sondern alle Menschen. Und, dass es jetzt nicht nur um das finanzielle Überleben geht.

Was also wäre der nächste Schritt, wenn wir die Krise als Möglichkeit der Neuorientierung sehen wollen, so wie das der Philosoph Markus Gabriel tut? "Um mit der Verunsicherung klar zu kommen, müssen wir unserem Leben einen anderen Sinn als vorher geben. Und der beste Sinn des Lebens, den wir uns geben können, ist die Anerkennung des Umstandes, dass wir als Menschen zu höherer Moralität befähigt sind. Das nannte Kant 'Das Reich der Zwecke' und Fichte, 'Die moralische Weltordnung'. Menschen leben primär in der moralischen Weltordnung. Und diesen Umstand haben wir kaschiert, indem wir ihn ersetzt haben durch einen falschen Sinn des Lebens, nämlich die Herstellung von bedeutungslosen Konsumgütern, deren Ergebnis nur ist, dass wir Menschen zu Tode bringen, als Konsequenz unserer komplexen Handlungssysteme. Und der nächste Schritt ist, dass wir wieder lernen müssen zu verstehen, dass der Sinn unseres Leben darin besteht, dass wir uns aufopfern können für andere, aber auch für uns selbst. Wir haben das nur einfach vergessen!"

Unser Handeln, unser Leben, hat Auswirkungen auf andere. Krise kommt vom griechischen "Krisis" und bedeutet Entscheidung. Jetzt müssen wir, so Gabriel, "die Zukunft zur Welt bringen". Und vielleicht werden nach dem Social Distancing wieder mehr echte soziale Bindungen aufgebaut. "Ich bin nicht mehr mein altes Ich. Ich bin jetzt ein neues Ich", sagte der französische Philosoph Marcel Proust.

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Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 23.04.2020 | 22:00 Uhr

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