Asyl für syrischen Folterchef?

Stand: 24.09.2020 06:00 Uhr

Die Bundesregierung hat trotz Warnung einen mutmaßlichen syrischen Folterchef nach Deutschland geholt und ihm ohne Anhörung Asyl gewährt. Er steht seit April 2020 in Koblenz vor Gericht.

von Jonas Schreijäg, Oliver Schröm und Sulaiman Tadmory

Das Auswärtige Amt war gewarnt. Trotzdem bekam der Syrer Anwar R. 2014 ein Visum für Deutschland und erhielt nach Recherchen von Panorama dann Flüchtlingsschutz und politisches Asyl. Das Problem: Anwar R. war kein herkömmlicher Kriegsflüchtling. Er diente zuvor dem syrischen Regime als hochrangiger Geheimdienstmitarbeiter. Anwar R. war Vernehmungschef in der für seine Folterpraktiken berüchtigten Geheimdienstabteilung 251, zu der auch das Gefängnis Al-Khatib in Damaskus gehört.

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Seit April 2020 steht Anwar R. wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Deutschland vor Gericht. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm vor, für 58 Morde und mindestens 4.000 Folterungen verantwortlich zu sein. Der Prozess vor dem Oberlandesgericht Koblenz ist weltweit das erste Verfahren gegen Mitarbeiter des Assad-Regimes. Anwar R. bestreitet, Folter angeordnet oder sich daran beteiligt zu haben.

Opposition erhoffte sich zunächst Geheimdienst-Informationen von Anwar R.

Bilder von gefolterten Menschen in Syrien © NDR/ARD Foto: Screenshot
Die Bundesanwaltschaft wirft Anwar R. vor, für 58 Morde und mindestens 4.000 Folterungen verantwortlich zu sein.

Ende 2012 desertierte Anwar R. nach eigenen Angaben vom syrischen Geheimdienst und setzte sich nach Jordanien ab. Bei der Flucht half ihm nach Panorama-Recherchen die syrische Opposition, der sich Anwar R. - mutmaßlich zum Schein - angeschlossen hatte. Im Gegenzug wollte Anwar R. Informationen über den Verbleib inhaftierter Assad-Gegner liefern, bestätigte der Regimegegner Wael Elkhaldy gegenüber Panorama. "Anwar R. hat uns versprochen, dass er uns 22.000 Dokumente geben wird mit Informationen (zu Assad-Gegnern), wo sie sind oder ob sie umgebracht wurden." Diese Zusage von Anwar R. war auch ein Grund, weswegen der hochrangige Oppositionelle Riad Seif dem deutschen Auswärtigen Amt die Aufnahme des früheren mutmaßlichen Folterchefs empfahl. Das sagte Riad Seif als Zeuge vor dem Oberlandesgericht Koblenz aus.  

Laut UN-Flüchtlingshilfswerk suchten damals insgesamt 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge humanitären Schutz. Allein in Jordanien lebte Anfang 2014 über eine halbe Million syrischer Flüchtlinge, viele in Massenlagern. Ein Visum für Deutschland - für die allermeisten unerreichbar. Dennoch erhielt Anwar R. nur sechs Tage, nachdem er 2014 ein Visum in der deutschen Botschaft in Jordanien beantragt hatte, einen positiven Bescheid. Der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter des Assad-Regimes wurde sogar in ein Bundesaufnahmeprogramm für "besonders schutzbedürftige syrische Flüchtlinge" aufgenommen.

Auswärtiges Amt holt Anwar R. trotz Warnung nach Deutschland

Beate Richter © NDR/ARD Foto: Screenshot
Warnte die deutschen Behörden: Beate Richter, ehemalige Leiterin einer deutschen Entwicklungseinrichtung in Jordanien.

Dabei waren die deutschen Behörden über Anwar R. und dessen frühere Tätigkeit als Vernehmungschef in einem Foltergefängnis des syrischen Geheimdienstes informiert. Beate Richter, damals Leiterin einer deutschen Entwicklungseinrichtung in Jordanien, hatte den deutschen Botschafter in Jordanien vor der Aufnahme von Anwar R. gewarnt. In einer E-Mail, die Panorama vorliegt, schrieb sie dem Botschafter, Anwar R. habe "in der Abteilung (…) gearbeitet (…), wo man unter Folter die Menschen befragt". Sie finde es "ungerecht und empörend, dass Deutschland gerade für solche Menschen die Türen öffnet, obwohl doch laut Medienberichten ca. 22.000 Syrer ein Einreisevisum beantragt haben." Der Botschafter meldete sich umgehend. Solche Hinweise seien nützlich: "Wir gehen der Sache nach."

Zumindest scheint der Botschafter seine oberste Dienststelle in Berlin informiert zu haben. Auf Nachfrage von Panorama bestätigt das Auswärtige Amt, es sei bekannt gewesen, dass Anwar R. für den syrischen Geheimdienst gearbeitet habe. Trotzdem, so schreibt das Auswärtige Amt, lagen "zu dem Zeitpunkt (…) bei den Sicherheitsbehörden keine Erkenntnisse zu Anwar R. vor, die gegen die Einreise und Visumerteilung gesprochen haben." Warum das Auswärtige Amt trotz Warnung Anwar R. für das humanitäre Aufnahmeprogramm der Bundesregierung aufnahm, beantwortet das Amt nicht. Nach Anordnung des Bundesinnenministeriums sollten eigentlich keine Personen in das Schutzprogramm aufgenommen werden, bei denen etwa "Verbindungen zu kriminellen Organisationen" bestanden haben, oder die "Bestrebungen (…) unterstützt haben, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung verstoßen oder gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind."

Anwar R. bekommt Asyl - ohne nach Fluchtgründen befragt zu werden  

Anwar R. vor Gericht © NDR/ARD Foto: Screenshot
Anwar R. war Vernehmungschef in einem syrischen Foltergefängnis. Er steht in Koblenz vor Gericht.

Trotz der Warnung ließen die Behörden Anwar R. im Juli 2014 mit seiner Familie nach Deutschland einreisen. Nach Aufnahme in das Schutzprogramm ging es weiter mit der Vorzugsbehandlung für den mutmaßlichen Ex-Folterchef. Als Anwar R. beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) einen Asylantrag stellte, war er offenbar selbst überrascht, wie einfach es lief. Vor Gericht sagte er später aus, er habe ausführlicher Stellung zu seinen Asylgründen nehmen wollen. Aber die Beamtin des BAMF habe gesagt: Es läge alles in der Akte schon vor und sein Fall sei bekannt. Er würde dann die Flüchtlingseigenschaft bekommen. Das BAMF äußert sich dazu nicht - man spreche aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht über Einzelfälle.

Panorama liegt jedoch der Asylbescheid von Anwar R. vor. Demnach bekam Anwar R. sowohl Flüchtlingsschutz als auch politisches Asyl, ohne dass er zuvor zu seinen Fluchtgründen befragt worden war. Auf die die gesetzlich vorgeschriebene "persönliche Anhörung wurde (…) verzichtet", heißt es darin - eine Ausnahmeregelung. Laut Asylgesetz wird eigentlich kein Flüchtlingsschutz gewährt, wenn die Annahme besteht, dass der Antragssteller ein "Verbrechen gegen den Frieden" oder "gegen die Menschlichkeit" begangen hat.

"Warum?" - fragt die syrische Aktivistin Wafa Mustafa

Wafa Mustafa © NDR/ARD Foto: Screenshot
Wafa Mustafa war in Syrien inhaftiert. Ihr Vater wurde mutmaßlich vom syrischen Geheimdienst verschleppt, sie weiß bis heute nicht, ob er noch lebt.

"Das macht uns wütend", sagt Wafa Mustafa, die selbst in Syrien inhaftiert war. Die 30-Jährige organisiert Proteste und Mahnwachen in Deutschland, um auf die Opfer des syrischen Geheimdienstes hinzuweisen. Ihr Vater, ein Regimegegner, wurde vor sieben Jahren verschleppt, mutmaßlich vom syrischen Geheimdienst. Wafa Mustafa weiß nichts über den Verbleib ihres Vaters, nicht einmal, ob er überhaupt noch lebt. Während der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Anwar R. in Deutschland Asyl bekam, genießt Wafa Mustafa nur "subsidiären Schutz" und muss somit regelmäßig um ihren Aufenthalt bangen. "Während tausende Geflüchtete in der Unsicherheit leben, ob ihre Dokumente verlängert werden, wird Anwar R. hier so willkommen geheißen", sagt Mustafa.

Das Auswärtige Amt schreibt auf Panorama-Anfrage, man habe Anwar R. "unter anderem" wegen der "Empfehlung eines hochrangigen Oppositionsvertreters" nach Deutschland geholt. Was "unter anderem" bedeutet, schreibt das Amt nicht. Es habe jedenfalls "im Einklang mit der Syrienpolitik der Bundesregierung" gestanden, die moderate Opposition zu unterstützen, der sich auch hochrangige Deserteure angeschlossen hätten.

Wollte Deutschland brisante Informationen?

Spekulationen, wonach das Auswärtige Amt oder der Bundesnachrichtendienst an brisanten Geheimdienstinformationen von Anwar R. interessiert waren, widerspricht das Auswärtige Amt. Man habe weder Informationen von Anwar R. bekommen noch sich darum bemüht. Auch aus BND-Kreisen heißt es, man habe nicht in Kontakt mit Anwar R. gestanden.

Wael Elkhaldy © NDR/ARD Foto: Screenshot
Laut Regimegegner Wael Elkhaldy wollte Anwar R. Informationen über den Verbleib von Assad-Gegner liefern. Doch Elkhaldy sagt: "Er hat uns verarscht."

Was immer das Ziel war: tatsächlich ist es unwahrscheinlich, dass Anwar R. jemals brisante Informationen preisgegeben hat. Syrische Oppositionelle, die ihn einst unterstützen wollten, sind jedenfalls längst ernüchtert. "Er hat uns nie Informationen gegeben, er hat uns verarscht", sagt Wael Elkhaldy. Anwar R. äußert sich laut seinem Anwalt nicht zu den Panorama-Recherchen.

Erst 2018, vier Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland, wurde gegen Anwar R. ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Dabei wurden die Ermittlungsbehörden nur deshalb auf den früheren Folterchef aufmerksam, weil er sich in Deutschland angeblich verfolgt fühlte und selbst bei der Polizei meldete. Offenbar fühlte er sich in Deutschland so sicher, dass er den Ermittlern freimütig erzählte, welche Position er einst im syrischen Geheimdienstapparat innegehabt hatte. Die Schilderungen von Anwar R. hatten Ermittlungen zur Folge und führten letztlich zur Anklageerhebung. Das Oberlandesgericht Koblenz muss jetzt entscheiden, ob sich Anwar R. schwerster Menschenrechtsverbrechen schuldig gemacht hat. Prozesstermine sind bis Frühjahr 2021 angesetzt.

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Der Panorama-Beitrag vom 24. September 2020 als PDF-Dokument zum Download. Download (119 KB)

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 24.09.2020 | 21:45 Uhr

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