Märchenhaft: Der Wolf, die Angst und der Wahlkampf
Es war in einer lauen Sommernacht im Juni, als Jungbauer André Licht spätabends mit seinem Trecker die Ernte einfuhr und ein totes Schaf entdeckte. Kurz darauf sah er den vermeintlichen "Täter": einen Wolf. Andre Licht begann ihn mit seinem Trecker zu jagen. "Als wir ihn gesehen haben, war er etwa 150 Meter weit weg, und dann sind wir bis auf 20 Meter an ihn rangefahren. Und erst dann ist er weggelaufen. Also wirklich Angst hatte er nicht."
Es war nicht das erste Mal, dass der Wolf mit der Nummer 924 in Schleswig-Holstein sein Unwesen trieb. Allein auf dem Deich in Wulfsmoor hatte er in den letzten acht Wochen zuvor 25 Schafe gerissen. "Dieser eine Problemwolf, der 924er, der muss auf jeden Fall entnommen werden, damit hier wieder Ruhe ist."
Abschießen oder nicht? Der Wolf polarisiert
Tierschützerin Ariane Müller dagegen lehnt das Schießen selbst von Problemwölfen wie dem 924er grundsätzlich ab. So versucht sie seit Monaten zu verhindern, dass ein seit Januar zum Abschuss frei gegebener Wolf in Niedersachsen geschossen wird. Mit anderen Aktivisten zieht sie durch die Wälder unweit von Steimbke und versucht, die Spuren des Wolfes zu vernichten, etwa den Kot. "Allein durch unsere Anwesenheit konnten wir bisher verhindern, dass sie den Rüden abgeschossen haben." Man sei es der Natur schuldig, den Wolf zu schützen.
Wohl selten hat ein Tier so polarisiert wie der Wolf. Für die einen ist er ein gefährliches Raubtier, für die anderen fast schon ein Kuscheltier. Seit der Maueröffnung ist er zurück in Deutschland und breitet sich gen Westen aus. Ein paar Hundert sind es inzwischen, Menschen wurden seitdem nicht angegriffen. Doch einzelne Wölfe spezialisieren sich auf Nutztiere, etwa Schafe. Über 1.600 haben sie 2017 gerissen. Die Bundesregierung will den Abschuss solcher Wölfe nun erleichtern.
"Der Wolf wurde schon immer überhöht"
Es wäre der finale Schlussakkord einer seit Monaten andauernden, teilweise hysterisch geführten Debatte über das Raubtier, das es in Mitteleuropa schon immer schwer hatte und Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland sogar ausgerottet war. "Der Wolf wurde schon immer überhöht", sagt die Journalistin Petra Ahne, die ein Buch über das Tier geschrieben hat. "Der Wolf, den man da gejagt hat, das war nicht nur das reale Tier, sondern das war das Tier der Geschichten, der Folklore, der Märchen. Die Werwölfe schwangen da mit." Wie etwa in Rotkäppchen, dem Märchen der Brüder Grimm. "Er ist die dunkle, ungeheuerliche Seite, auf der man nicht sein darf und als rechtschaffener Bürger auch nicht sein will. Er ist das andere, das einen von außen bedroht. Das Interessante ist, dass er heute wieder für so eine Art Grenzziehung dient. Was will ich drin haben in der Gesellschaft und was bedroht sie von außen."
AfD vergleicht Wölfe mit Flüchtlingen
In der politischen Diskussion hat vor allem die AfD in den letzten Monaten mit dieser "Grenzziehung" gespielt. In den Landtagswahlkämpfen macht die Partei den Wolf ebenso zu dem Thema wie im Bundestag. So vergleicht der sächsische Bundestagsabgeordnete Karsten Hilse die Rückkehr der Wölfe mit der Ankunft der Geflüchteten von 2015 - für ihn die "große Transformation": "Die große Transformation bringt Mord und Totschlag und Vergewaltigung in nie dagewesenem Ausmaß und eine Verrohung der Gesellschaft. Und das Wolfsexperiment Schäden von hunderttausenden von Euro." Zudem bedient Hilse die Ängste, die der Wolf seit Jahrhunderten hervorruft. "Wölfe laufen immer öfter seelenruhig durch Dörfer, an Bushaltestellen vorbei, an denen nur wenige Stunden vorher Kinder auf ihren Schulbus warteten." Rotkäppchen lässt grüßen.
Mensch unwahrscheinliches Angriffsziel
Den Chef der Wolfsbeobachtungsstelle Niedersachsen, Jäger Raoul Reding, nervt die maßlose Überhöhung des Themas - von allen Seiten. Opfer eines Wolfsangriffs zu werden sei äußerst unwahrscheinlich - eben wegen des Beuteschemas. "Ein Mensch läuft auf zwei Beinen. Ein relativ schmaler Strich in der Landschaft. Er klingt anders, er riecht anders. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering, dass der Wolf den Mensch mit seiner bekannten Beute verwechselt", sagt Reding.
Fakt ist: Der Wolf gehört zu den bestüberwachten Tieren in Deutschland. Insofern hat Reding wohl nicht ganz unrecht, wenn er dazu auffordert, die Emotionen aus der Debatte herauszunehmen.
Bauern drängen auf politische Lösung
Allerdings müssen den Ankündigungen der Behörden auch irgendwann mal Taten folgen. Im Falle des zum Abschuss freigegebenen Wolfes 924 aus Schleswig-Holstein jedenfalls ist nicht bekannt, wann und wo die Jäger versucht haben, das Tier zu schießen. Die Jäger bleiben anonym - aus Angst vor den Wolfsbefürwortern und zum Leidwesen von Bauern wie André Licht. "Da das alles anonym ist, wer die Jäger sind und die auch sonst wo wohnen, ist das natürlich schwierig, wenn er auch noch einen halbe Stunde herfahren muss. Dann ist der Wolf ja schon längst weg."
Grenzenlos ist die Geduld der Bauern jedenfalls nicht. Wie sagte jüngst ein Bio-Bauer am Rande einer Talkshow in Brandenburg: "Wenn es keine politischen Antworten geben wird, dann wird die ländliche Bevölkerung an der Politik vorbei das Zepter in die Hand nehmen und Lösungen finden, auch wenn das dann in den drei S enden wird. 'Schießen. Schippen. Schweigen.' Und das wäre sehr, sehr schade."