Fluchtursachen: Wie Europa den Konflikt in Libyen schürt
Der ehemalige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) wirft europäischen Staaten vor, den Bürgerkrieg in Libyen anzuheizen. So treibe Europa auch die Fluchtbewegung über das Mittelmeer an.
Der ehemalige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel wirft führenden europäischen Staaten vor, den Bürgerkrieg in Libyen durch Unterstützung gegnerischer Kriegsparteien anzuheizen und zu verlängern. Europa mache sich "mitschuldig", dass der Krieg kein Ende finde. So treibe Europa auch die Fluchtbewegung über das Mittelmeer an. Die Europäische Union schaffe "die Voraussetzung dafür, dass der Migrationsdruck größer wird", sagte Gabriel Panorama.
Insbesondere kritisiert Gabriel die französische Unterstützung des Rebellenführers General Khalifa Haftar. "Offiziell" erkenne Frankreich zwar die von der internationalen Gemeinschaft als legitim betrachtete libysche Regierung von Ministerpräsident Fayez as-Sarradsch an. "Tatsächlich" unterstütze Paris jedoch dessen Haupt-Widersacher General Haftar, der gerade versuche, in einem Krieg die Hauptstadt Tripolis zu erobern. Für diese Unterstützung spreche die Tatsache, dass der französische Präsident Emmanuel Macron den Rebellenchef Haftar mehrfach in Paris empfangen habe. Während seiner Amtszeit als Außenminister (von Januar 2017 bis März 2018 ) besuchte Gabriel selbst die libysche Hauptstadt und stellte Regierungschef Sarradsch deutsche Unterstützung in Aussicht. Neben der Bundesregierung hält vor allem auch Italien im Libyenkonflikt zu Sarradsch.
Der SPD-Politiker hebt die Folgen dieser widersprüchlichen europäischen Politik für die Migrationsfrage hervor. Die Aussichten, die Flüchtlingsbewegungen einzudämmen und menschenwürdige Bedingungen für Migranten herzustellen, bewertet Gabriel negativ: "Solange dieser Bürgerkrieg tobt, werden wir praktisch keine Chancen haben". Hier bemängelt Gabriel eine eklatante Widersprüchlichkeit in der europäischen Außenpolitik gegenüber der südlichen Nachbarregion, weil die europäischen Staaten ausnahmslos die Migration über das Mittelmeer stoppen wollten. Durch die Unterstützung gegnerischer Kriegsparteien bewirke man jedoch das Gegenteil.
"Zurück in Konzentrationslager?"
"Ich meine, wir streiten hier über die Frage, ob wir Schiffe anlanden lassen. Die Wahrheit ist, wenn wir dort nicht den Bürgerkrieg bekämpfen, dann vergessen wir bitte die Vorstellung, wir würden Leute zurückbringen können! Ja wohin eigentlich? Wieder zurück in die Konzentrationslager oder in die Finger derjenigen, die Krieg führen?" Der eigenen Bevölkerung würden die Europäer sagen, "wir möchten weniger Migration". Dabei schaffe die Europäische Union in Libyen "die Voraussetzung dafür, dass der Migrationsdruck größer wird."
Rebellenchef Haftar wurde mehrfach vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Elyséepalast in Paris empfangen, zuletzt am 22. Mai, als sein Feldzug gegen die Regierung in Tripolis in vollem Gange war. Haftar in Paris "wie einen Staatspräsidenten" zu behandeln, sei "das falsche Signal", so Gabriel. Dieser wolle die "international anerkannte Regierung unter Ministerpräsident Sarradsch "mit militärischer Gewalt aus Tripolis vertreiben."
Panorama legte dem französischen Außenministerium Gabriels Kritik vor. Eine Sprecherin teilte mit, Frankreich trete für eine "Stabilisierung" der Lage in Libyen und eine "politische Lösung" ein. Dafür müsse aber "der Terrorismus" bekämpft werden. Zu ihren Verbindungen mit dem Rebellenanführer Haftar äußerte sich die französische Regierung nicht.
International nicht anerkannte Kampftruppe
Rebellenchef Khalifa Haftar hat seine Machtbasis in Benghazi im Osten des nordafrikanischen Landes. Der 75-Jährige, in den siebziger Jahren Weggefährte des 2011 gestürzten Diktators Mu´ammar al-Gaddafi und später Vertrauensmann der CIA, führt die "Libysche Nationalarmee" (LNA) an. Diese international nicht anerkannte Kampftruppe führt seit Anfang April von Osten und Süden her einen Feldzug gegen die Hauptstadt Tripolis, die im Nordwesten Libyens an der Mittelmeerküste liegt.
Ministerpräsident Sarradsch wurde zweimal von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin empfangen. Gabriels Vorgänger im Amt des Außenministers, Frank-Walter Steinmeier, der jetzige Bundespräsident, sicherte der Regierung Sarradsch bei einem Besuch in Tripolis im April 2016 deutschen Beistand zu: "Wir müssen dafür sorgen, dass sie ihre Autorität, ihren Wirkungsbereich über die Hauptstadt hinweg ausbreitet", so Steinmeier.
Französische Waffen und Eliteeinheiten im Lager von Haftar
Gabriel kritisiert auch Waffenlieferungen an General Haftar. "Europa macht in Libyen einen fürchterlichen Eindruck," bilanziert der ehemalige Bundesaußenminister. "Wenn Europa mit unterschiedlichen Positionen dort auftritt und Bürgerkriegsparteien mit Waffen oder mit politischer Unterstützung versorgt, dann macht es sich mitschuldig an diesem Krieg“.
Im vergangenen Juni hatten libysche Regierungstruppen an einem Stützpunkt von Haftars Kämpfern im Süden von Tripolis mehrere moderne Panzerabwehrraketen vom Typ Javelin entdeckt. Bei den hochwertigen Waffen handelt es sich um ein amerikanisches Fabrikat. Das französische Verteidigungsministerium bestätigte in einer offiziellen Mitteilung, die Raketen seien im Besitz französischer Spezialtruppen gewesen, die südlich von Tripolis einen Einsatz "gegen den Terrorismus" ausgeführt hätten. Die Waffen seien nicht "an lokale Kräfte" weitergegeben worden, heißt es in der Mitteilung aus Paris. Dennoch hat sich seit dem Waffenfund der Verdacht erhärtet, dass Frankreich Rebellenchef Haftar, den es respektvoll "le maréchal Haftar" (Feldmarschall Haftar) nennt, bei seiner Offensive gegen die Regierung Sarradsch auch militärisch unterstützt.
Das Auswärtige Amt in Berlin unterstrich auf Anfrage die Notwendigkeit, die libyschen Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zu bringen. "Den Mitgliedstaaten ist bewusst, dass wir das Land langfristig und umfassend beim Prozess der Stabilisierung unterstützen müssen," teilte eine Sprecherin der "Panorama"-Redaktion mit. Auf die faktische Uneinigkeit der Europäer in der Libyenpolitik ging die Bundesregierung konkret nicht ein.