Stand: 11.07.2019 14:59 Uhr

Exklusiv: Was geschah an Bord der "Sea-Watch 3"?

von Johannes Edelhoff, Nadia Kailouli und Jonas Schreijäg

Als die "Sea-Watch 3" an der Kaimauer des Hafens von Lampedusa anlegt, bricht Applaus los, dazwischen dringen Buhrufe. Kapitänin Carola Rackete steht auf der Brücke, reckt die Arme hoch in Siegerpose. Unten auf der Mole beschimpft eine Italienerin Rackete als "Menschhändlerin": "Ihr müsst sie sofort verhaften. Das ist meine Insel", schreit sie. Kurz danach verlässt die Kapitänin als erste das Schiff und wird verhaftet. Der Vorwurf: Schlepperei.

VIDEO: Exklusiv: Was geschah an Bord der "Sea-Watch 3"? (20 Min)

Junge Kapitänin gegen italienischen Rechtspopulisten

Carola Rackete ist in 17 Tagen auf See zu einer Ikone geworden - einerseits. Gleichzeitig zieht sie Hass auf sich. Ihr Foto war auf dem Cover des "Spiegel", in der "New York Times", Tausende gingen für sie auf die Straße, demonstrierten, der italienische Innenminister Matteo Salvini twittert zigfach über sie und hat sie als seine Lieblingsfeindin auserkoren. Doch wie konnte eine 31-Jährige aus Hambühren bei Celle zu einer Art Greta der "Willkommenskultur" werden und gleichzeitig "Staatsfeind Numero Uno" für italienische Rechtspopulisten? Die linke Kapitänin gegen den italienischen Macho-Rechtspopulisten - prägnanter kann ein Gegensatz kaum sein.

Auch deshalb ist ein Thema wieder in die Schlagzeilen gerückt, das Europa ziemlich lange verdrängt hat. Für das es seit fünf Jahren keine Lösung gibt und über das kaum noch berichtet wurde. Wie gehen wir damit um, dass viele Afrikaner nach Europa flüchten?

Die Geschichte hinter den Schlagzeilen

STRG_F- und Panorama-Reporter Jonas Schreijäg (l.) und Nadia Kailouli © NDR Foto: Screenshot
STRG_F- und Panorama-Reporter Jonas Schreijäg (l.) und Nadia Kailouli waren die ganze Zeit mit an Bord der "Sea-Watch 3".

Wer Rackete ist, was an Bord geschah, wie sie sich verändert hat, haben die Reporter Nadia Kailouli und Jonas Schreijäg für Panorama und STRG_F dokumentiert. Sie waren die komplette Zeit auf der "Sea-Watch 3" dabei, filmten Crewmeetings, drehten, als die italienischen Behörden an Bord kamen, sprachen mit den Flüchtlingen.

Den Reportern ist es geglückt, Situationen einzufangen, die die Geschichte hinter den Schlagzeilen erzählen - etwa als italienische Beamte an Bord kommen, die, fast demütig vor Scham, Rackete ein Dekret des italienischen Innenministers Salvini überreichen. Darin steht, dass sie mit einer hohen Geldstrafe rechnen muss, sollte sie in italienische Territorialgewässer einfahren. "Ich glaube, denen hat das fast leid getan", kommentiert Rackete die Szene: "Man hatte nicht den Eindruck, dass diese Schritte, die da jetzt kamen oder kommen, von denen persönlich böse gemeint sind. Die führen halt das aus, was hier vom Innenministerium gemacht wird."

"Ich fahre jetzt in den Hafen, over"

Ein italienisches Boot wird bei der Anlandung der Sea Watch 3 touchiert. © NDR Foto: Screenshot
Als Kapitänin Carola Rackete mit der "Sea-Watch 3" in Lampedusa anlandet, rammt sie ein Schiff.

Ein europäisches Land nach dem anderen duckt sich weg. Malta, Frankreich, die Niederlande, Italien - all diese Länder bittet die "Sea-Watch 3" um Hilfe, doch kein Land übernimmt Verantwortung für die Überlebenden der Seenotrettung. Als sie nicht mehr an eine politische Entscheidung glaubt, entscheidet sich Rackete dafür - ohne Erlaubnis - in italienisches Hoheitsgebiet einzulaufen. Dafür nimmt sie eine hohe Strafe in Kauf.

"Ich fahre jetzt in den Hafen, ich fahre jetzt in den Hafen, over", gibt sie per Funk an die italienischen Behörden vor Lampedusa durch. "Stoppen Sie Ihren Motor", schallt es aus dem Funkgerät zurück, doch Rackete bleibt stur, fährt weiter. Als ein italienisches Schiff den Liegeplatz blockiert, touchiert Rackete es und drängt es gegen die Kaimauer. Ein italienischer Beamter springt von Bord an Land. Rackete hat wohl gar nicht bemerkt, dass sie ein Schiff gerammt hat. "Das hat ordentlich gekracht", sagt ihr ein Crewmitglied. "Ich habe gar nichts gehört", antwortet Rackete. Die Reporter filmten dutzende Szenen wie diese.

Seenotrettung wieder in den Fokus gerückt

Ein kleines, überfülltes Schlauchboot treibt auf dem Mittelmeer. © NDR Foto: Screenshot
Von einem kleinen, völlig überfülltem Schlauchboot rettet die "Sea-Watch 3" diese Schiffbrüchigen. 2.277 Menschen sind vergangenes Jahr im Mittelmeer ertrunken.

Für Rackete selbst hat ihre Popularität auch etwas Befremdendes, verrät sie den Reportern. Denn das Besondere ist, dass an Racketes Mission eigentlich kaum etwas besonders war. Rettungseinsätze im Mittelmeer gibt es ständig, nur in den Medien kommen die seit langem kaum noch vor. Die Politik beschäftigt sich so gut wie gar nicht mehr mit der Frage, wie wir mit den Flüchtlingen aus Afrika umgehen. Das komplizierte Problem ist nicht im Ansatz gelöst. Flüchtlinge werden nur noch von der libyschen Küstenwache gerettet, die sie zurück in ein Bürgerkriegsland bringt, in dem ihnen laut UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees), Amnesty International und Auswärtigem Amt Folter und Vergewaltigung drohen.

Rackete hat das wieder in den Fokus gerückt. Das ist keine Lösung, aber ein notwendiger Anfang.

Interview Rackete
Aufnahme der "Sea-Watch 3" auf hoher See. © NDR Foto: Screenshot

"Sea-Watch 3": Neue Fragen und Antworten zu unserer Reportage

"Wenn man nicht möchte, dass das, was man sieht, stimmt, wird es als Inszenierung bezeichnet" - Die Diskussion über unsere "Sea-Watch 3"-Reportage reißt nicht ab. Hier Antworten auf weitere Fragen. mehr

Aufnahme der "Sea-Watch 3" auf hoher See. © NDR Foto: Screenshot

Fakten zu unserer "Sea-Watch 3"-Reportage

Im Netz kursieren Falschmeldungen und wilde Spekulationen rund um unsere Reportage von der "Sea-Watch 3" - darum hier einmal die Fakten. mehr

Die Kapitänin der Seawatch 3, Carola Rackete © NDR Foto: Screenshot

Sea-Watch: Rackete will sich Prozess stellen

Die Kapitänin der "Sea-Watch 3", Carola Rackete, will sich den Vorwürfen gegen sie und ihre Hilfsorganisation in Italien auch in einem Prozess stellen. Das sagte sie in einem Interview mit Panorama. mehr

Mann mit Deutschland-Hut © NDR Foto: Screenshot

"Absaufen?" - Zu Besuch bei Pegida

Bei einer Pegida-Demonstration im Juni skandierte eine aufgebrachte Menge, dass Mittelmeer-Flüchtlinge "absaufen" sollen. Wer fordert so etwas? Und warum? Wir haben in Dresden nachgefragt. mehr

Der Flüchtling Sabur Azizi steht an einer Kaimauer. Seine Frau und seinen Sohn sind ertrunken. © ARD/NDR

Ertrunkene Flüchtlinge: Protokoll einer vermeidbaren Katastrophe

Regelmäßig erfahren wir, dass Flüchtlinge bei dem Versuch nach Europa zu gelangen ertrinken. Nun erheben Überlebende eines solchen Unglücks schwere Vorwürfe gegen die griechische Küstenwache. mehr

Die Kapitänin der Seawatch 3, Carola Rackete © NDR Foto: Screenshot
6 Min

"Ich denke, dass wir alles richtig gemacht haben"

Carola Rackete, Kapitänin der "Sea-Watch 3", spricht im Panorama-Interview über die Rettungsmission im Mittelmeer, die bevorstehende Anhörung und persönliche Anfeindungen. 6 Min

"Sea Watch 3"-Kapitänin Carola Rackete © NDR Foto: Screenshot

"Sea-Watch 3": Keine Belege dafür, dass Panorama-Dokumentation "inszeniert" war

Die Webseite "Journalistenwatch" spekuliert, die Rettungsaktion der "Sea-Watch 3" sei inszeniert gewesen. Stattdessen sprechen zahlreiche Indizien für die Darstellungen von "Sea-Watch" und Panorama. extern

Exklusiv: Was geschah an Bord der "Sea Watch"?

Der Panorama-Beitrag vom 11. Juli 2019 als PDF-Dokument zum Download. Download (226 KB)

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 11.07.2019 | 21:45 Uhr

Über Panorama

Kalender © Fotolia.com Foto: Barmaliejus

Panorama-Geschichte

Als erstes politisches Fernsehmagazin ging Panorama am 4. Juni 1961 auf Sendung. Die Geschichte von Panorama ist auch eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. mehr

Anja Reschke © Thomas & Thomas Foto: Thomas Lueders

60 Jahre Panorama

60 Jahre investigativ - unbequem - unabhängig: Panorama ist das älteste Politik-Magazin im deutschen Fernsehen. mehr

Panorama 60 Jahre: Ein Mann steht hinter einer Kamera, dazu der Schriftzug "Panorama" © NDR/ARD Foto: Screenshot

Panorama History Channel

Beiträge nach Themen sortiert und von der Redaktion kuratiert: Der direkte Einstieg in 60 Jahre politische Geschichte. mehr

Das Logo von #NDRfragt auf blauem Hintergrund. © NDR

Umfrage zum Fachkräftemangel: Müssen wir alle länger arbeiten?