Fataler Streit: Deutschland und Frankreich in Libyen über Kreuz
Europa sträubt sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen, die übers Mittelmeer kommen. Im Meer aufgegriffene Migranten sollen nach Libyen zurückgeschickt werden. Die strikte Umsetzung dieser Politik soll die Menschen davon abschrecken, die gefährliche Überfahrt zu wagen.
Die Recherchen von Panorama zeigen, wie Europa die selbst gesetzten Ziele konterkariert. Die Lage der Flüchtlinge in Libyen ist unerträglich geworden. Zu Folter, Vergewaltigung und Erpressung kommt nun eine neue Gefahr hinzu: die direkte Kriegseinwirkung. Anfang Juli starben mindestens 44 Menschen bei einem Luftangriff auf das Flüchtlingslager Tadschoura bei Tripolis. In Libyen tobt ein Bürgerkrieg, und Europa schürt ihn auch noch, indem es gegnerische Kriegsparteien unterstützt. Die Europäische Union sei in Libyen "eine Macht, die das Chaos vergrößert", sagt Loay Mudhoon, Nahost-Experte der Deutschen Welle. "Durch die Intensivierung der Kämpfe ist davon auszugehen, dass mehr Menschen Risiken eingehen und mehr Menschen versuchen, nach Europa zu kommen", ergänzt Mudhoon.
Europa macht sich "mitschuldig"
Europa trage zur Verlängerung des Krieges bei und mache sich dadurch "mitschuldig", bekräftigt der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel (SPD). Deutschland setzt, wie etwa auch Italien, auf die international anerkannte Regierung von Ministerpräsident Fayez as-Sarradsch. Dieser wurde bereits zweimal von Bundeskanzlerin Merkel (CDU) in Berlin empfangen. Der ehemalige Außenminister und jetzige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) erklärte nach einem Treffen mit Sarradsch in Tripolis im April 2016, "Hauptziel" Deutschlands sei es, die Autorität der libyschen Regierung "auszubreiten."
Das sei "nicht gelungen", bilanziert Steinmeiers Parteikollege Sigmar Gabriel. In Wahrheit sei Sarradsch "nur der Bürgermeister von Tripolis". Den führenden Staaten der Europäischen Union stellt Gabriel ein verheerendes Zeugnis aus. Europa mache in Libyen "einen fürchterlichen Eindruck". Es sei eines "der katastrophalsten Beispiele dafür, wie man durch Uneinigkeit einen Krieg mit verlängert". Ein wichtiger Akteur ist der selbsternannte "Feldmarschall der Libyschen Nationalarmee" Khalifa Haftar. Er lässt, von Osten und Süden her, seine Truppen auf die Hauptstadt Tripolis marschieren. Kampfflugzeuge unter Haftars Kommando bombardieren Tripolis aus der Luft. In der Hauptstadt verteidigt sich die international anerkannte Regierung von Ministerpräsident Sarradsch. Während die Offensive der Rebellentruppe läuft, wird General Haftar am 22. Mai vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron wie ein Staatsgast im Elysée-Palast empfangen. In der Pressemitteilung dazu wird Haftar nicht aufgefordert, die Militäroffensive auf Tripolis zu stoppen. Macron appelliert lediglich an den libyschen Gast, die Zivilbevölkerung zu schonen und nach Möglichkeiten für einen Waffenstillstand zu suchen.
Frankreich unter Verdacht, die Rebellentruppen zu unterstützen
Die Besuche von Haftar in Paris sind nicht das einzige Detail, an dem man ablesen kann, dass Frankreich im libyschen Bürgerkrieg auf Seiten des Rebellengenerals steht. Im Juni wurden an einem militärischen Stützpunkt südlich von Tripolis, den Haftars Truppe wegen eines Gegenangriffs von Regierungseinheiten hastig räumen musste, vier hochwertige Panzerabwehrraketen vom Typ "Javelin" entdeckt. Der Fund war so brisant, dass er wenig später im amerikanischen Kongress in Washington erörtert wurde. Denn die panzerbrechenden Javelin-Raketen, von denen jede einzelne 170.000 Dollar kostet, sind ein amerikanisches Produkt. Vor dem Ausschuss für Auswärtige Beziehungen nahm der Leiter der Abteilung für politisch-militärische Angelegenheiten im State Department, Clarke Cooper, zu den Panzerabwehrraketen Stellung: "Die Raketen gehören Frankreich," sagte Cooper auf die Frage einer Senatorin. Soll heißen: die USA haben diese Waffen an Frankreich verkauft, und Frankreich ist für deren Endverbleib und Nutzung verantwortlich. Damit ist der Verdacht geäußert, dass Frankreich die Rebellentruppe von Haftar auch militärisch unterstützt.
Bereits 2016 war bekannt geworden, dass französische Spezialeinheiten auf Seiten von General Haftar in Libyen kämpften. Damals musste Paris zugeben, dass drei französische Elitesoldaten in Libyen ums Leben gekommen waren.
Einsatz "gegen den Terrorismus"
Das französische Außenministerium gibt zu, dass die Raketen "den französischen Streitkräften gehören". Wie sind die Waffen an den Stützpunkt von Rebellengeneral Haftar südlich von Tripolis gelangt? Dafür hat das Verteidigungsministerium eine Erklärung, die etwas abenteuerlich klingt. Die Raketen seien im Besitz "einer französischen Spezialeinheit" gewesen, die sich in einem Einsatz "gegen den Terrorismus" befunden habe. Im Übrigen seien die Raketen "unbrauchbar" gewesen. Sie seien an dem Militärstützpunkt nur zwischengelagert worden und man habe beabsichtigt, sie später ganz zu zerstören. Frankreich habe die Raketen "nicht an lokale Kräfte" weitergegeben. Frankreich ergreife im Libyenkonflikt "nur eine Partei", bekräftigt das Verteidigungsministerium, nämlich "die Partei des Kampfes gegen den Terrorismus."
Aber wer sind nach französischer Auffassung die Terroristen? Die Regierung von Ministerpräsident Sarradsch in Tripolis? Auf Anfrage von Panorama teilt das französische Außenministerium mit, Frankreich befürworte im Libyenkonflikt "eine politische Lösung". Frankreichs Priorität sei eine "nachhaltige Stabilisierung Libyens".
"Zynismus, der nicht mehr zu überbieten ist"
Diese Aussagen seien angesichts der tatsächlichen französischen Politik in Libyen "Heuchelei" und "Zynismus, der nicht mehr zu überbieten ist", meint Loay Mudhoon, der Nahost-Experte der Deutschen Welle. Ex-Außenminister Gabriel wirft den Franzosen vor, nur formal die Regierung Sarradsch anzuerkennen, "tatsächlich" jedoch General Haftar zu unterstützen. Dahinter steckten "wirtschaftlicher Eigennutz" und "Machtpolitik". Gabriel erinnert daran, dass Libyen ein "ölexportierendes Land" sei. Der französische Konzern Total ist eines der größten Unternehmen der Branche in Europa.
"Das ist überhaupt etwas, das wir erleben, dass Kriege kein Ende mehr finden, weil immer wieder von außen Interessen hineingespielt werden", kommentiert Gabriel. Der Nahost-Experte der Deutschen Welle Loay Mudhoon wirft den führenden europäischen Staaten vor, sich in Libyen wie rivalisierende Kolonialmächte aufzuführen. Faktisch betreibe Europa dort jedoch seine "Selbstverzwergung".
"So wird aus diesem großen Wirtschaftsblock namens EU niemals ein außenpolitisch relevanter Akteur werden", meint Mudhoon. Angesichts des Aufstiegs von China und des Verfalls ganzer Staaten in Nordafrika und im Mittleren Osten gebe Europa "ein trauriges Bild" ab. Die "fehlende Koordination" zwischen Frankreich und Deutschland erschrecke ihn besonders.
Ursprung des deutsch-französischen Gegensatzes: Der Aufstand in Libyen 2011
Sigmar Gabriel erklärt den deutsch-französischen Gegensatz in der Libyenpolitik mit der Geschichte des "Arabischen Frühlings" im Jahre 2011. Damals gingen die Libyer, wie die Bürger anderer arabischer Staaten auch, gegen ihren Langzeitdiktator auf die Straße. Machthaber Gaddafi wurde gewaltsam gestürzt und von Aufständischen getötet. Auf französische Anregung hin griff damals die Nato auf Seiten der Revolte in den Konflikt ein und flog Luftangriffe gegen Gaddafis Stellungen. Deutschland machte nicht mit. Diese Vorgeschichte müsse man in Betracht ziehen, meint Gabriel, wenn man verstehen wolle, warum die deutsche Stimme in Paris heute nichts zählt. "Mit denen müssen wir eigentlich nicht mehr reden!" Das sei die französische Haltung gegenüber Deutschland in der Libyenfrage, so Gabriel.
Der ehemalige deutsche Außenminister ist nur noch einfacher Bundestagsabgeordneter. Was sagen die Zuständigen in Berlin? Auf eine Anfrage von Panorama nach den deutsch-französischen Gegensätzen weicht das Auswärtige Amt aus. Eine Sprecherin betonte lediglich "die Notwendigkeit", die libyschen Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zu bekommen. "Den Mitgliedstaaten ist bewusst, dass wir das Land langfristig und umfassend beim Prozess der Stabilisierung unterstützen müssen", fügte sie hinzu.
Es ist eine Geschichte uneinheitlicher europäischer Bündnispolitik, die einen Krieg verlängert. Aber es ist keine Geschichte von Gut gegen Böse. Regierungschef Sarradsch, obwohl international anerkannt, eignet sich nicht für die Rolle des Guten. In seinem Machtbereich sind Flüchtlingslager, die deutsche Diplomaten als "Konzentrationslager" bezeichnet haben. Die Zeugnisse über Folter, Vergewaltigung und Erpressung von Flüchtlingen, die internationale Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen zusammengetragen haben, sind so zahlreich, detailliert und glaubwürdig, dass man sie nicht leugnen kann.
Der andauernde Krieg stoppt die Migration über das Mittelmeer nicht. Er macht die Lage für die Migranten nur schlimmer und gefährlicher.
"Wir streiten in Europa über die Frage, ob wir Schiffe mit Flüchtlingen anlanden lassen", kritisiert Außenminister a.D. Sigmar Gabriel. Die Wahrheit ist, wenn wir in Libyen nicht den Bürgerkrieg bekämpfen, dann vergessen wir bitte die Vorstellung, wir würden Leute dorthin zurückbringen können! Ja wohin eigentlich? Wieder zurück in die Konzentrationslager oder in die Finger derjenigen, die Krieg führen?" Gabriel moniert, dass die europäischen Staaten so ihre Versprechen an die Wähler nicht erfüllen könnten: "Wir sagen unserer eigenen Bevölkerung, dass wir nicht so viel Migration haben wollen. Wir schaffen aber die Voraussetzung dafür, dass der Migrationsdruck größer wird."