"Autos raus!"
Hunderte Menschen sitzen auf der Straße. Kein Auto kommt mehr durch, keine Tram, kein Fahrrad. Vier Minuten Stille. Vier Minuten für die vier Menschen, die an dieser Ecke in Berlin am Freitagabend starben. Getötet von einem SUV - einem rund zwei Tonnen schweren Porsche-Geländewagen - der auf den Bürgersteig raste.
Schnell ist ein #SUVVerbot in aller Munde. Die einen mahnen, die Toten nicht für die eigene Anti-Auto-Ideologie zu instrumentalisieren. Die anderen fordern, "panzerähnliche" Autos hätten in der Stadt nichts verloren. So auch Stephan Dassel, grüner Bürgermeister des Bezirks Berlin-Mitte, in dem der Unfall passierte.
Tatsächlich ist mittlerweile fast jedes vierte in Deutschland zugelassene Fahrzeug ein SUV: 23,9 Prozent. Zur Jahrtausendwende waren es gerade einmal 2,9 Prozent.
Doch wie kommt es, dass die einen immer lauter und militanter Autos raus rufen, das Auto in der Stadt gar zum Feind Nummer eins erklärt haben? Während trotzdem mehr als dreiviertel aller Haushalte in Deutschland ein Auto - oder auch mehr - besitzt?
Ein Leben ums Auto
Mirco George lebt im Umland von Hamburg. Nicht weit weg und doch vier Kilometer von der letzten Bahnstation entfernt. Zur Arbeit bräuchte er mit den Öffentlichen 50 Minuten pro Strecke. Mit dem Auto ist es gerade einmal die Hälfte.
Für ihn gehört sein Auto zum Alltag dazu. Sein Leben ist um das Auto gebaut. Haus, Kind, Arbeit - alles lässt sich einfacher mit dem Auto wuppen. Wie er leben etwa 70 Prozent der Deutschen: Auf dem Land, in Kleinstädten, abseits der beradelbaren Großstadt. Zwei Drittel pendeln mit dem Auto zur Arbeit. Für George würde autofrei in der Stadt bedeuten: doppelte Kosten. Denn so, wie sein Zuhause gerade angebunden ist, wäre ein Leben ohne Auto für ihn zu umständlich.
7 Abschleppungen, 14 Knöllchen in 2 Stunden
Welche Szenen sich zeitgleich in den Städten abspielen - dafür reicht ein Besuch beim Ordnungsamt Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin. Dort kämpfen viel zu wenig Beamte in zwei Schichten gegen die Autoprobleme eines 300.000 Einwohner-Bezirks.
Jaqueline Mätzkow und ihre Kollegen räumen hier zwei Mal in der Woche auf. Konkret heißt das: Falschparker abschleppen lassen, Knöllchen schreiben, Bußgelder aufbrummen. Doch während sie auf der einen Seite die Bushaltestelle freimachen, parken auf der anderen Seite schon wieder neue. "Die haben das schon oft mit eingepreist, das Bußgeld", sagt Mätzkow. "Ein Stich ins Wespennest", resümiert ihr Kollege. Alle hier sind sich einig: Die rund 30 Euro Bußgeld fürs Falschparken bringen nichts.
Alle wollen weniger Autos
Zwar will Verkehrsminister Andreas Scheuer das Bußgeld auf hundert Euro anheben. Im internationalen Vergleich aber wird Deutschland damit allenfalls Mittelmaß: In den Niederlanden etwa zahlt man fürs Parken auf einem Behindertenparkplatz 370 Euro Buße.
Das Auto unattraktiver machen - so hört sich das Ziel bei Grünen wie dem Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar an. Unattraktiver aber meint teurer und unbequemer - und dann ganz obsolet machen, also abschaffen. Das will beispielsweise Verkehrsforscher Andreas Knie.
Autofrei: die Lösung aller Probleme?
Aber auch die Autoindustrie scheint längst eingesehen zu haben, dass sich etwas verändern muss. Auf der Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA), die heute beginnt, verhaltene Töne. Selbst dort ist angekommen, was für viele Autofahrer noch radikal klingt: "Ich stimme damit überein, dass wir die Innenstädte autofrei machen", sagt etwa Porsche-Chef Andreas Blume, "und dann mit intelligenten Lösungen bedienen. Auch autonomes Fahren, um Personen zu transportieren." Eine Porsche, ein SUV, gehört für ihn eh nicht in die Stadt, sondern "auf die Landstraße oder auf die Rennstrecke."
Tatsächlich wird das Auto - und nicht nur SUVs - gerade schon aus vielen Stadtbezirken verbannt. Die Revolution im Kleinsten hat längst begonnen. Ob in Kiel, Bremen, Potsdam oder Berlin: Modellprojekte gibt es mehr als je zuvor. Es tut sich was.
Auch im Hamburger Stadtteil Ottensen. Dort regieren die Grünen, die bei der Bezirkswahl Ende Mai 46 Prozent geholt und jetzt gleich vier Straßen für autofrei erklärt haben. Oder fast: Gerade einmal zwölf Stunden am Tag, zwischen 11 Uhr am Morgen und 23 Uhr am Abend müssen die Autos draußen bleiben. Es sei denn, sie haben eine Ausnahmegenehmigung, einen Hinterhofstellplatz oder sind taxigelb. Radikal geht anders.
Gegner der autofreien Stadt
Und trotzdem regt sich im Bezirk Widerstand: Die Initiative gegen das Verkehrsprojekt trifft sich alle zwei Wochen, einmal die Woche mit dem Bezirk - und immer wieder mit Medienvertretern. Dabei sind Anwohner wie Gisela Alberti, die trotz ihres verstauchten Fußes Angst hat, keine Ausnahmegenehmigung zu erhalten. Oder der Besitzer der kleinen Reinigung auf der Ottenser Hauptstraße. Seit über 20 Jahren betreibt Jochen Faiz dort die Reinigung. 20 Prozent seiner Kunden kämen mit dem Auto, meint er. Wer Teppiche vorbei bringt oder alt ist, der kommt nicht mal eben zu Fuß oder mit dem Rad vorbei. "Ich habe Angst um meine Existenz", sagt er.
Auch die Apothekerin Anette Kaiser-Vilnow ist von dem Projekt genervt. Am Eröffnungstag der autofreien Straße wollte sie gar nicht in Ottensen sein - zu viele feiernde Leute, die sowieso nicht auf das Auto angewiesen seien. Sie muss mit ihrer Apotheke sechs bis acht Mal am Tag beliefert werden und kann sich nicht an die Randzeiten halten. Denn sie kann nie alle Medikamente gleichzeitig parat halten, muss aber alles im Zweifelsfall bis Ladenschluss liefern können. Aktuell bringt der Zulieferer die Medikamenten-Boxen zu Fuß vorbei. Wie lange das gut geht, weiß sie nicht. Eine Genehmigung hat sie, genau wie Jochen Faiz von der Reinigung, schon seit langem beantragt. Gekommen ist noch nichts.
Autofrei ohne Blaupause
Einseitiges Parken. Anwohnerparken: So etwas hätten sich die Gegner stattdessen gewünscht. Autos ganz raus - das ist ihnen zu radikal, weil nicht praktikabel, vielleicht sogar umsatzhindernd. Wenn das so sein sollte, wollen sie klagen. Währenddessen operiert der Bezirk am offenen Herzen. Und wenn das ein Erfolg wird, da ist sich Eva Botzenhart, die Grünen-Abgeordnete im Verkehrsausschuss des Bezirks, fast sicher, dann soll nach der sechsmonatigen Testphase der ganze Kern des Stadtteils autofrei werden. Am Horizont: die autofreie Stadt.