Smartphones: Verdaddeln wir unser Leben?
Auf dem Schulhof der Kastanienbaumgrundschule in Berlin Mitte ist es ziemlich laut. Kinder spielen Fangen, rennen über den Innenhof, und manche schreien so laut und grell, dass es fast in den Ohren wehtut. Doch der zwölfjährigen Sarwien gefällt der Lärm: "Ich finde es gut, dass hier nicht alle auf ihr Handy gucken, sondern miteinander spielen." Denn dass es so laut ist, liege auch am Handyverbot, da ist Sarwien sich sicher. Zu Hause "hänge ich sehr viel am Handy", gibt sie zu: Videos auf YouTube, eigene Musikvideos drehen, vier Stunden am Tag verbringe sie so. Oft nimmt ihr Vater irgendwann ihr Handy weg. Dann gibt es Handyverbot für den Rest des Abends.
Streit ums Handy - wer kontrolliert wen?
Dieser Streit ums Handy wird fast überall in Deutschland ausgetragen, in beinahe jeder Familie. Eltern gegen Kinder - dazwischen steht das Smartphone. Ein Gerät, das Fluch und Segen zugleich ist und an dessen Anziehungskraft Eltern und Kinder gemeinsam verzweifeln. Muss ich mein Kind kontrollieren, bevor das Handy mein Kind kontrolliert? Ab welchem Alter sollen Kinder ein eigenes Handy haben? Und vor allem: Soll das Handy in der Schule erlaubt werden?
Die Erwachsenen sind sich da ziemlich einig. Laut einer Umfrage des "Spiegels" sind 86 Prozent aller Deutschen für ein generelles Handyverbot an der Schule. In Frankreich gibt es das, Bayern als Bundesland hat eine entsprechende Regelung aufgesetzt. Auch Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, hat sich für ein Verbot ausgesprochen. Und ein großer Chor von Kritikern stimmt regelmäßig mit ein, bemüht Studien und Statistiken, um Untergangsszenarien zu entwerfen.
Smartphone in der Schule?
Doch Alexander Baldus, Lehrer an der Kastanienbaumschule, ein junger engagierter Typ mit Vollbart, grauem Skateboard-Sweater und weißen Sneakern, probiert genau das aus. Drei Tage lang gibt er Projektunterricht, in dem die Kinder Pro- oder Kontra-Argumente fürs Handy in der Schule sammeln sollen und am Ende in einem kleinen Film umsetzen - gedreht mit dem Handy. Baldus, 30 Jahre, findet, man müsse das Handy unbedingt in den Unterricht einbeziehen. "Es ist im Alltag der Kinder dauerpräsent. Zu Hause lernen viele den bewussten Umgang damit nicht", sagt er. Zum Anfang des Projekts lässt Baldus die Schüler der 6A abstimmen. Eine knappe Mehrheit ist gegen ein Verbot. "Das Handy zieht mich einfach irgendwie an", sagt Lara (11). Warum das so ist, kann sie selbst nicht erklären. Die Schüler führen die Debatte offensichtlich nicht zum ersten Mal, sie haben Argumente parat. "Nur wenn wir das Handy im Unterricht benutzen, können wir einen verantwortungsbewussten Umgang mit dem Gerät lernen", begründet Fritz (11).
Ein Argument, das der Initiative "Digitale Bildung trifft Schule" (Digibits) sicher gefallen würde. Sie unterstützt das Projekt an der Schule, dahinter stehen Mitglieder wie Facebook oder der Handyhersteller Huawei, Schirmherr ist das Bundesinnenministerium. Digibits produziert Lehrmaterialien, die Lehrern zeigen, wie sie Tablets und Smartphones im Unterricht einsetzen können, egal ob in Mathe oder Deutsch. So etwa steht es auch in der Digitalstrategie der Kultusministerkonferenz: Es solle kein "eigenes Fach gegründet" werden, die Digitalisierung solle "integrativer Teil der Fachcurricula aller Fächer" werden. Die Kastanienbaumschule probiert hier also das aus, was bald in ganz Deutschland Standard sein soll.
Digitale Droge?
Prominentester Gegner dieses Ansatzes ist Manfred Spitzer, Professor für Neurowissenschaft aus Ulm. In seinem Buch "Die Smartphone-Epidemie" vergleicht er die Geräte gerne mit Heroin oder Alkohol. Mit einem Unterschied: "Die gesundheitlichen Auswirkungen von Smartphones sind weitaus größer", schreibt er. Das Smartphone, eine Art Superdroge, überall erhältlich und hochgradig abhängig machend. Der Einsatz an Schulen sei demzufolge so etwas wie ein staatlich verordnetes Suchtprogramm. Das ist in etwa die Kampflinie bei dem Thema. Dazwischen stehen Schüler, Lehrer und Eltern und brüten über der Frage, ob wir eine Generation digital verlorener Menschen produzieren, weil wir ihnen zu wenig über das Smartphone beibringen oder weil wir sie nicht vor dem Gerät beschützen.
Im Projektunterricht "Handyverbot" in der 6A fällt auf, dass die Schüler zwar fast alle ein Handy nutzen, sich aber auch ihre Gedanken dazu machen: Die Schüler haben Angst, dass die Handys ablenken, dass sie sich zu wenig bewegen. Und sie haben Angst vor Cyber-Mobbing. Doch trotz schlauer Argumente: ist das Ding einmal an, verhalten sich die Kids oft alles andere als vernünftig. In Deutschland besitzen bereits zwei Drittel der Zehn- bis Elfjährigen ein eigenes Smartphone; bei den 16- bis 18-Jährigen sind es 94 Prozent. Und sie alle verbringen viel Zeit damit. 85 Prozent der zwölf- bis 17-Jährigen hängen durchschnittlich drei Stunden pro Tag am Handy, so eine repräsentative Umfrage der Krankenkasse DAK. Alle zehn Minuten checken sie ihr Gerät auf Neuigkeiten.
Für bewusste Smartphonepausen plädiert sogar Digibits. Aber man könne Kindern in fast allen Unterrichtsfächern zeigen, dass ein Smartphone nicht nur zum Chatten und Spielen gut ist.
Werkzeug Smartphone, Spielzeug Smartphone
Das lernen die Schüler der 6A gerade. Der elfjährige Pablo und seine Gruppe wollen in ihrem Film zeigen, was los wäre, wenn das Handy auf dem Schulhof erlaubt wäre: Keiner spielt mehr Fußball, die Kinder starren auf die kleinen Bildschirme und zocken. Die Kamera schwenkt kurz weg, Pablo und die anderen stopfen sie sich ihre Jacken unter die Pullover. Im nächsten Bild haben alle dicke, ausgebeulte Bäuche. Die Message: Daddeln statt bewegen macht dick. Der Spot dauert etwa 30 Sekunden, die Sechstklässler haben schon ein gutes Gefühl für Dramaturgie und Timing. Beim Dreh ist keiner durch das Telefon abgelenkt. Im Gegenteil: so begeistert und bei der Sache erlebt auch Lehrer Alexander Baldus seine Schüler sonst selten. Die Filme haben sie schneller fertig als von ihm geplant.
Doch dann zieht es sich, die Schüler müssen warten, während die Filme hochgeladen werden. Nun zeigt sich die Kehrseite der Smartphones: Ein Junge verschickt Fotos, ein Mädchen checkt ihre Nachrichten, ein anderer spielt heimlich Fortnite, ein Handy-Ballerspiel. Man bekommt einen Eindruck davon, wie die Ablenkung durch das Technikspielzeug stören kann. Lehrer Alexander Baldus glaubt trotzdem an den Ansatz: "Ich hatte keine festen Regeln vorgegeben, und dann hat der eine oder andere schon das Ding rausgeholt und gespielt." Am Ende landen alle Filme via Beamer an der Wand der Klasse. Es wird viel gelacht, die Kinder sehen ziemlich stolz aus.
Aber - die Überraschung: Die Meinung in der Klasse hat sich nach dem Unterricht gedreht: Nun ist eine Mehrheit für ein Handyverbot! Die Schüler hatten schließlich selbst den Eindruck, dass es besser sei, das Ding einfach mal wegzulegen. Das Beste daran: sie haben sich selbst dafür entschieden, ohne Verbotsregeln von oben.