Lehrer am Limit
Immer wieder klagen Lehrer, wie überlastet sie seien. Zu viel Stress und auch die Kinder würden immer respektloser. Jeder dritte Lehrer leidet laut einer Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin unter Schlafstörungen, 80 Prozent empfinden einen enormen Leistungsdruck. Warum das so ist, das bleibt oft im Dunkeln. Kritik öffentlich äußern, das System Schule einem Kamerateam öffnen, das wollen die meisten nicht. Schule ist oft ein abgeschotteter Raum, eine Black Box.
Es kostet viel Kraft
Umso mutiger war es, dass Kay Stöck, Leiter der Stadtteilschule Hamburg-Wilhelmsburg, uns gestattete, an seiner Schule zu drehen. Acht Wochen lang begleiteten wir Schüler und Lehrer mit der Kamera und bekamen so einen ungewöhnlich offenen Einblick. Anja Reschke stand als "Co-Lehrerin" sogar mehrmals vor der Klasse und konnte so am eigenen Leib erfahren, wie viel Kraft es kostet, jeden Tag aufs Neue Schüler zu motivieren und pubertierende Jugendliche zu bändigen.
Hamburg-Wilhelmsburg ist kein besonders vornehmer Stadtteil, aber auch nicht der schlechteste. Die Stadtteilschule (die Hamburger Form der Gesamtschule) ist eine Schule wie es sie in allen deutschen Großstädten gibt. Viele Schüler hängen hier bis zu zwei Jahre im Unterrichtsstoff zurück. Ende vergangenen Jahres hatten Schulleiter aus Hamburg-Wilhelmsburg einen Brandbrief an die Behörde geschrieben und Überlastung beklagt. Auch der Hamburger Senat erkannte daraufhin das Problem und kündigte an, insgesamt zehn Millionen Euro in den nächsten vier Jahren bereit stellen zu wollen, davon seien jetzt erste neue Lehrer eingestellt worden. Das sei zu wenig, finden viele Schulleiter, zumal auch nicht alle "Problemschulen" berücksichtigt werden. Durch die Einführung der Inklusion hätte sich die Lage an den Schulen auch noch einmal verschärft.
Herausforderung Inklusion
Vor vier Jahren hat Deutschland die UN-Konvention über Inklusion unterschrieben. Dazu gehört, dass behinderte und lernbehinderte Kinder nicht länger ausgegrenzt werden sollen und deshalb auch an Regelschulen unterrichtet werden können. In Hamburg wird das seit 2010 umgesetzt. Das, was Förderschulen mit speziell ausgebildeten Lehrern kaum geschafft haben, nämlich Kinder mit Förderbedarf zu einem Schulabschluss zu bringen, soll nun hier, an einer regulären Schule gelingen mit Lehrern, die auf die Herausforderungen der Inklusion kaum vorbereitet wurden. Zwar wurden den Schulen zusätzliche Lehrerstellen zugewiesen, aber das reicht bei Weitem nicht aus.
In der Klasse 6b zum Beispiel sind 22 Kinder aus zehn Nationen. Geboren wurden die meisten in Deutschland. Aber ihre Eltern stammen aus Pakistan, der Türkei, Ghana, Afghanistan, Russland. Sechs dieser Schüler sind außerdem Inklusionskinder. Sechs von 22! Und es gibt bislang keine Ressourcen, den Unterricht solcher Klassen komplett doppelt zu besetzen. Zwei Pädagogen für 22 Kinder mit den unterschiedlichsten Lernniveaus gibt es nur bei einem Viertel aller Stunden. Aber auch zu zweit schafft man es kaum, den Kindern gerecht zu werden.
Erziehung Sache der Schule?
Das macht dem Schulleiter Kay Stöck Sorgen. Die Schule sei kein sozialer Brennpunkt, wie man ihn sich vorstelle, mit Gewalt oder Drogen habe man hier keine Probleme. Es seien nur eben viele Kinder hier, denen die Eltern nicht das mitgegeben hätten, was man sich wünschen würde: Kein Vorlesen, keinen Zoo- oder Museumsbesuch, keine Gespräche über Gott und die Welt und das Leben. "Das müssen wir ihnen hier mitgeben." Erziehungsarbeit sei manchmal wichtiger als Wissensvermittlung und für einige Eltern eben auch Sache der Schule.
Nicht ausreichend vorbereitet
Und so wird von Schule und Lehrern immer mehr erwartet. Aber kann man alle gesellschaftlichen Herausforderungen einfach in Schulen abladen? Viele Lehrer sind nicht ausreichend auf diese Aufgaben vorbereitet und gehen täglich an ihre psychischen und physischen Grenzen. "Bei allen Bemühungen, bei allem Engagement", sagt Schulleiter Kay Stöck, "Ich habe große Zweifel, dass wir wirklich allen Schülern unter diesen Umständen gerecht werden". Genau das aber kann sich unsere Gesellschaft nicht leisten.