Soziale Gerechtigkeit: Was heißt das?
Die SPD hat soziale Gerechtigkeit zum Wahlkampfthema Nummer eins gemacht und damit einen Nerv getroffen: 70 Prozent der Deutschen finden, dass es ungerecht zugeht im Land. "Dieses Gerechtigkeitsdefizit, das die Leute empfinden, das ist nicht etwas, was ich erfinde, das ist da", sagt SPD-Kanzler-Kandidat Martin Schulz. Sprich: Selbst wenn die Zahlen etwas anderes belegen, das Gefühl ist eben da. Auch Angela Merkel fordert "Gerechtigkeit und Innovation", ohne das genauer zu definieren. Soziale Gerechtigkeit ist eben ein sehr großer, sehr schwammiger Begriff.
Was genau verstehen eigentlich die Wähler darunter? Panorama ist in verschiedene soziale Milieus gegangen und hat dort immer wieder diese eine Frage gestellt.
In der Kleingartensiedlung, zwischen Gartenzwergen und Kugelgrills, macht ein Mann in Lederweste seinem Ärger Luft: "Soziale Gerechtigkeit ist, wenn die Deutschen nicht immer hintenan stehen müssen." Er findet, dass es den Flüchtlingen in Deutschland zu gut geht. Seine Frau pflichtet ihm bei: "Ausländer kriegen jetzt schon Schrebergärten." Der Nachbar glaubt, Flüchtlinge würden beim Jobcenter bevorzugt. Die Rentnerin ein paar Lauben weiter findet, Rentner seien in Deutschland generell benachteiligt, während sich ein grillender Beamter im Ruhestand über seine Pension freut.
"Alle Menschen sollen die gleichen Chancen haben"
Ein ganz anderes Bild zeigt sich am Schulterblatt in der Sternschanze, dem Hamburger Café- und Kneipenviertel, wo sich vor allem junge Leute treffen. Vertreter der Generation, die von sich selbst sagt: "Rente? Bekommen wir doch eh nicht mehr." Hier ist man sich jedoch einig: "Soziale Gerechtigkeit ist die Nicht-Ausgrenzung von Personen und die Gleichbehandlung von Menschen", sagt ein 30-Jähriger mit Sonnenbrille. "Keinen Unterschied zwischen sozialer oder ethnischer Herkunft zu machen." Eine junge Frau ergänzt: "Egal welche Hautfarbe sie haben, welches Geschlecht, welche sexuelle Orientierung - alle Menschen sollen die gleichen Chancen haben."
Ärger über Jobcenter
Die Hochhaussiedlung am Osdorfer Born liegt nur wenige Kilometer vom Stadtrand entfernt. Die Einkommen sind hier niedrig, viele Bewohner beziehen Sozialleistungen. Ein gelernter Hafenarbeiter, etwa 35 Jahre alt, erzählt, dass er gerade eine Abfuhr vom Jobcenter bekommen hat, das seinen Führerschein nicht bezahlen will: "Ich gehe für kleines Geld arbeiten, andere Leute machen nichts und kriegen den Führerschein auf gut deutsch in den Allerwertesten gesteckt. Da denke ich: Wo ist der Fehler?" Ein Rentner ärgert sich: "Ich hab' mein Leben lang Krankenkasse bezahlt und muss trotzdem noch von meiner Rente Krankenkasse und Pflegeversicherung bezahlen."
Im Foyer der Hamburgischen Staatsoper finden die meisten Besucher, dass Deutschland ein sozial gerechtes Land ist - auch wenn man noch viel verbessern könne. Eine Dame mit großen, goldenen Ohrringen sagt: "Wir können nicht alle gleich Geld bekommen. Also, einen Einheitsscheck im Monat, das gibt es nicht." Es gehe nach Leistung und ein bisschen Glück gehöre auch dazu. Die Familien, die vererben. Wie sie zu ihrem Wohlstand gekommen ist? "Ich habe einen sehr fleißigen, klugen Mann gehabt."
Die Gesellschaft ist nicht gerecht
Was alle der Befragten verbindet: Sie sehen, dass die Gesellschaft nicht gerecht ist. Noch nicht, oder nicht mehr, das variiert. Doch auch wenn die einen die Zustände als "katastrophal" beschreiben und die anderen Deutschland als "Insel der Glückseligkeit" preisen, die meisten sagen über ihre eigene Situation: "Mir geht es gut." Selbst der wütende Mann in der Lederweste.