Stand: 31.10.2013 10:00 Uhr

Raubzug: Wie der Mittelstand die Juden ausplünderte

von Tamara Anthony, Johannes Jolmes, Christian Salewski
"Arisierte" Marken.
Beispiele von Marken, deren heutige Besitzer die "Arisierung" auf ihren Homepages nicht thematisieren: Trix, Fromms, Camelia, Tempo, Felina, Hedwig Bollhagen.

Millionen Menschen greifen jedes Jahr zu Tempo-Taschentüchern, zu Camelia Binden und zu Fromms Kondomen. Tausende Kunden kaufen bei Leiser Schuhe, bei Thürmann Brötchen oder basteln an ihrer Trix Modelleisenbahn. Was die meisten nicht ahnen: Diese bekannten Marken wurden von jüdischen Unternehmern geschaffen, die von den Nazis verfolgt wurden.

Ihre Firmen wurden in den 1930er Jahren "arisiert", wie die Nazis den faktischen Raub durch "Reichsdeutsche" beschönigend nannten. Bis heute verschweigen viele Firmen diesen Teil ihrer Vergangenheit, werben aber zugleich mit der langen Tradition ihrer Marken.

VIDEO: Raubzug: Wie der Mittelstand die Juden ausplünderte (8 Min)

Felina - Ein Beispiel unter vielen

So auch der Unterwäschehersteller Felina aus Mannheim. Ein Fall unter vielen, der exemplarisch für den selektiven Umgang vieler ehemals jüdischer Unternehmen mit ihrer NS-Geschichte steht: Der unschöne Teil der Markengeschichte wird einfach ausgeblendet.

"Quality since 125 years", Qualität seit 125 Jahren, so pries Felina etwa seine BHs noch kürzlich an. Tradition als Verkaufsargument. Doch auf der Firmenhomepage liest man über den Firmengründer Eugen J. Herbst bloß einen dürren Hinweis. Größeren Raum erhält in der Selbstdarstellung Richard Greiling, der Mann, der das Familienunternehmen 1936 für einen Bruchteil des Marktwertes kaufte. Über ihn heißt es in der Firmenchronik: "1936 - Generalkonsul Richard Greiling übernimmt das Unternehmen und verdoppelt - trotz Kriegswirren und Währungsreform - innerhalb weniger Jahre den Unternehmensgewinn." War Greiling also ein Vorzeigeunternehmer?

Greiling nutzte die Notlage der Eigentümer aus

Schaufenster mit der Aufschrift "Jude" während der NS-Zeit.
Geschäfte jüdischer Inhaber wurden beschmiert und boykottiert - und häufig in den Ruin getrieben.

Die Historikerin Christiane Fritsche hat die Geschichte von Felina erforscht. Sie kennt die Umstände der Übernahme durch Greiling, der nicht nur Felina "arisierte", sondern auch noch vier weitere jüdische Firmen. "Er hat die Notlage der jüdischen Vorbesitzer ausgenutzt und ganz klar profitiert", sagt sie. Von einer normalen Übernahme, wie auf der Firmenhomepage dargestellt, könne keine Rede sein. "Die dunklen Seiten der Firmengeschichte werden einfach komplett ausgeblendet." Auch darüber, dass die ehemals jüdische Firma Felina unter der Ägide Greilings Zwangsarbeiter beschäftigte und ihre Waren zeitweise im Ghetto Lodz fertigen ließ, liest man auf der Homepage kein Wort.

Direkt nach der Machtübernahme der Nazis 1933 fangen Einkaufsverbände an, die jüdische Firma zu boykottieren. Sie darf weder an Ausstellungen teilnehmen noch an der Vorlage von Musterkollektionen. Das Geschäft des damals zweitgrößten Herstellers von Damenunterwäsche mit über 1000 Mitarbeitern bricht ein. SA und SS bedrohen die Familie Herbst auch persönlich.

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Tom Herbst, Urenkel des jüdischen Unternehmensgründers Eugen Herbst, erinnert sich, was seine Tante ihm über die traumatischen Erfahrungen dieser Jahre erzählte: "Sie wurden etwa aus dem öffentlichen Schwimmbad mit vorgehaltener Waffe herausgeworfen", sagt er. Die Herbsts hatten damals Angst um ihr Leben. Der zunehmende antijüdische Terror bereitet die Bühne für die "Arisierung".

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 31.10.2013 | 21:45 Uhr

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