Stand: 31.10.2013 10:00 Uhr

Götz Aly: "Massenhaft kleine Bestechungen"

Götz Aly ist Historiker und beschäftigt sich mit dem Nationalsozialismus und der Geschichte des Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Ein Schwerpunkt seiner Schriften ist der Holocaust und die Wirtschaftspolitik der nationalsozialistischen Diktatur.

Panorama: Was war das Ziel der sogenannten "Arisierung", und wie wurde es erreicht?

Der Historiker Götz Aly. © NDR/ARD
Der Historiker Götz Aly stellt fest, dass es sich bei den "Arisierungen" um Zwang und Gewalt handelte.

Götz Aly: Es ging immer darum, dieser bestimmten rassisch als Juden definierten Minderheit Nachteile über Nachteile zu verschaffen und den Druck so zu erhöhen, bis sie sagen: Schluss jetzt! Wir gehen. Egal, was mit unserem Eigentum passiert.

Warum hat die Beschäftigung mit dem Thema sich erst in den vergangenen Jahren so intensiv entwickelt?

Das Thema "Arisierung" ist lange verdrängt worden. Die Akten, die großenteils bei den Oberfinanzdirektionen erhalten waren und auch heute zur Verfügung stehen, waren bis vor rund zehn Jahren überall gesperrt und nicht erschlossen. Man hat sich erst ganz zuletzt mit der Frage der Eigentumsübertragung beschäftigt, des massenhaften Diebstahls, des Raubes. Das Thema gibt ja dem Holocaust die Konnotation des Raubmordes. Man hat es deswegen am längsten tabuisiert. Weil es peinlich ist. Weil es so viele Menschen betrifft.

Haben denn nur Parteimitglieder profitiert?

Das hatte mit Partei ganz wenig zu tun. Also wenn man zum Beispiel Hamburg nimmt, die dortigen Versteigerungen von Möbeln, Schmuckstücken und Gebrauchsgegenständen, die vor allem von niederländischen, belgischen und luxemburgischen, auch nordfranzösischen Juden geraubt und dorthin transportiert worden sind. An diesen Versteigerungen haben sich 400.000 Hamburger beteiligt! Die sind namentlich in Unterlagen erfasst. Nun müssen Sie sich klarmachen, das waren gar keine Hamburger, die waren nämlich im Krieg. Es waren die Hamburgerinnen, die 1942, 1943, 1944 an diesen Versteigerungen teilgenommen haben. In der NSDAP waren unter den Mitgliedern zehn Prozent Frauen. Von diesen Hamburger Frauen war also praktisch keine oder nur ganz wenige in der Partei. Trotzdem haben sie alle mitgemacht. Wohl auch weil unter dem Druck des Krieges die moralischen Maßstäbe sinken. Ganz wenige haben sich bewusst nicht an dieser Art von Leichenfledderei beteiligt.

Wozu führte es denn, dass sich an der "Arisierung" quasi Millionen Deutsche beteiligten?

Das Interessante daran ist, dass die vorausgehende Massenenteignung, von der alle in Deutschland irgendwie profitieren, den Massenmord an den Juden begünstigte. Denn wenn Sie ein kleines Gartengrundstück, ein Motorrad, ein Fahrrad, ein schönes Ölgemälde, ein Buch, vielleicht auch einen Arbeitsplatz von einem erwerben, der diskriminiert wird und das alles verliert oder unter Zwang ganz billig verscherbeln muss - wenn Sie also diesen Vorteil annehmen und dieser kleinen massenhaften Bestechung anheimfallen, dann wollen sie hinterher nicht wissen, wohin einer deportiert wird. Sie haben ein Interesse, dass ein solcher Mensch nicht wieder zurückkommt. Sie schauen weg. Auch wenn sie hören, dass da schreckliche Dinge passieren, dann sagen Sie hinterher im Brustton der Überzeugung: Das hab ich nicht gewusst. Aber warum? Weil Sie es nicht wissen wollten.

Oft rechtfertigen sich die "Ariseure" jüdischer Unternehmen in den Wiedergutmachungsprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg damit, dass Sie ja noch einen Preis für das Unternehmen gezahlt hätten und so den jüdischen Eigentümern sogar geholfen hätten. 

Das sind so die üblichen Lügen. Dann wird oft noch gesagt, vielleicht haben die auch irgendwelche Abfindungen bezahlt, vielleicht hat es sogar Verhandlungen gegeben, aber die jüdischen Verhandlungspartner standen unter großem Zwang. Sie mussten schließlich ihren Besitz loswerden und auswandern. Dann wird auch oft gesagt, man habe den weichenden jüdischen Besitzern in dieser Situation sogar etwas Gutes getan und einen für damalige Verhältnisse gerechten Preis bezahlt und dabei auf ein Drücken des Kaufpreises oder die Einschaltung der Partei oder gar der Gestapo bewusst verzichtet. Ich glaube, in 90 Prozent der Fälle oder mehr sind das Lügen. Einfache Lügen. Ausreden, die nach dem Krieg ja alle hatten. Darauf sollte man wenig geben.

 

Weitere Informationen
Alte Felina-Werbung. © NDR/ARD

Raubzug: Wie der Mittelstand die Juden ausplünderte

Viele bekannte Marken wurden von jüdischen Unternehmern geschaffen, die unter den Nazis faktisch enteignet wurden. Bis heute verschweigen viele Firmen diesen Teil ihrer Vergangenheit. mehr

Volkszählung im besetzten Deutschland 1946. © picture-alliance/ dpa Foto: dpa DANA

Volkszählung 1939 im Nazi-Regime: Statistik unterm Hakenkreuz

Die Volkszählung im Deutschen Reich am 17. Mai 1939 diente den Nazis dazu, umfangreiche Daten ihrer Bürger zu erfassen - und um Juden auszusortieren. mehr

Der jüdische Zahnmediziner Prof. Dr. Hans Moral aus Rostock © Universitätsarchiv Rostock

Die tragische Geschichte des Hans Moral

Der jüdische Zahnarzt Hans Moral hatte in Rostock unter dem NS-Terror zu leiden. Als letzten Ausweg wählte er den Suizid. mehr

Gedenkstein an die Opfer des Holocaust auf dem Jüdischen Friedhof in Rostock. © picture-alliance/ dpa/dpaweb Foto: Bernd Wüstneck

Holocaust: Der Völkermord der Nazis an den Juden

Mehr als sechs Millionen Juden wurden während der NS-Zeit ermordet. Daran erinnert jedes Jahr am 27. Januar ein Gedenktag. mehr

"Arisierung" in Hamburg

Informationen zum Stichwort "Arisierung" im historischen Nachschlagewerk "Das Jüdische Hamburg". extern

"Arisierung" in München

Informationen zur "Arisierung" in der Bayerischen Landeshauptstadt vom Bayerischen Rundfunk. extern

"Arisierung" in Thüringen

Das Projekt "Arisierung" der Friedrich-Schiller-Universität Jena beschreibt die Entrechtung und Enteignung der jüdischen Bürger in Thüringen. extern

Diskriminierung, Arisierung und Vernichtung

Informationen zur "Arisierung" und zu den rechtlichen Grundlagen der Entschädigung bei der Jewish Claims Confernce. extern

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 31.10.2013 | 21:45 Uhr

Über Panorama

Kalender © Fotolia.com Foto: Barmaliejus

Panorama-Geschichte

Als erstes politisches Fernsehmagazin ging Panorama am 4. Juni 1961 auf Sendung. Die Geschichte von Panorama ist auch eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. mehr

Anja Reschke © Thomas & Thomas Foto: Thomas Lueders

60 Jahre Panorama

60 Jahre investigativ - unbequem - unabhängig: Panorama ist das älteste Politik-Magazin im deutschen Fernsehen. mehr

Panorama 60 Jahre: Ein Mann steht hinter einer Kamera, dazu der Schriftzug "Panorama" © NDR/ARD Foto: Screenshot

Panorama History Channel

Beiträge nach Themen sortiert und von der Redaktion kuratiert: Der direkte Einstieg in 60 Jahre politische Geschichte. mehr