Götz Aly: "Massenhaft kleine Bestechungen"
Götz Aly ist Historiker und beschäftigt sich mit dem Nationalsozialismus und der Geschichte des Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Ein Schwerpunkt seiner Schriften ist der Holocaust und die Wirtschaftspolitik der nationalsozialistischen Diktatur.
Panorama: Was war das Ziel der sogenannten "Arisierung", und wie wurde es erreicht?
Götz Aly: Es ging immer darum, dieser bestimmten rassisch als Juden definierten Minderheit Nachteile über Nachteile zu verschaffen und den Druck so zu erhöhen, bis sie sagen: Schluss jetzt! Wir gehen. Egal, was mit unserem Eigentum passiert.
Warum hat die Beschäftigung mit dem Thema sich erst in den vergangenen Jahren so intensiv entwickelt?
Das Thema "Arisierung" ist lange verdrängt worden. Die Akten, die großenteils bei den Oberfinanzdirektionen erhalten waren und auch heute zur Verfügung stehen, waren bis vor rund zehn Jahren überall gesperrt und nicht erschlossen. Man hat sich erst ganz zuletzt mit der Frage der Eigentumsübertragung beschäftigt, des massenhaften Diebstahls, des Raubes. Das Thema gibt ja dem Holocaust die Konnotation des Raubmordes. Man hat es deswegen am längsten tabuisiert. Weil es peinlich ist. Weil es so viele Menschen betrifft.
Haben denn nur Parteimitglieder profitiert?
Das hatte mit Partei ganz wenig zu tun. Also wenn man zum Beispiel Hamburg nimmt, die dortigen Versteigerungen von Möbeln, Schmuckstücken und Gebrauchsgegenständen, die vor allem von niederländischen, belgischen und luxemburgischen, auch nordfranzösischen Juden geraubt und dorthin transportiert worden sind. An diesen Versteigerungen haben sich 400.000 Hamburger beteiligt! Die sind namentlich in Unterlagen erfasst. Nun müssen Sie sich klarmachen, das waren gar keine Hamburger, die waren nämlich im Krieg. Es waren die Hamburgerinnen, die 1942, 1943, 1944 an diesen Versteigerungen teilgenommen haben. In der NSDAP waren unter den Mitgliedern zehn Prozent Frauen. Von diesen Hamburger Frauen war also praktisch keine oder nur ganz wenige in der Partei. Trotzdem haben sie alle mitgemacht. Wohl auch weil unter dem Druck des Krieges die moralischen Maßstäbe sinken. Ganz wenige haben sich bewusst nicht an dieser Art von Leichenfledderei beteiligt.
Wozu führte es denn, dass sich an der "Arisierung" quasi Millionen Deutsche beteiligten?
Das Interessante daran ist, dass die vorausgehende Massenenteignung, von der alle in Deutschland irgendwie profitieren, den Massenmord an den Juden begünstigte. Denn wenn Sie ein kleines Gartengrundstück, ein Motorrad, ein Fahrrad, ein schönes Ölgemälde, ein Buch, vielleicht auch einen Arbeitsplatz von einem erwerben, der diskriminiert wird und das alles verliert oder unter Zwang ganz billig verscherbeln muss - wenn Sie also diesen Vorteil annehmen und dieser kleinen massenhaften Bestechung anheimfallen, dann wollen sie hinterher nicht wissen, wohin einer deportiert wird. Sie haben ein Interesse, dass ein solcher Mensch nicht wieder zurückkommt. Sie schauen weg. Auch wenn sie hören, dass da schreckliche Dinge passieren, dann sagen Sie hinterher im Brustton der Überzeugung: Das hab ich nicht gewusst. Aber warum? Weil Sie es nicht wissen wollten.
Oft rechtfertigen sich die "Ariseure" jüdischer Unternehmen in den Wiedergutmachungsprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg damit, dass Sie ja noch einen Preis für das Unternehmen gezahlt hätten und so den jüdischen Eigentümern sogar geholfen hätten.
Das sind so die üblichen Lügen. Dann wird oft noch gesagt, vielleicht haben die auch irgendwelche Abfindungen bezahlt, vielleicht hat es sogar Verhandlungen gegeben, aber die jüdischen Verhandlungspartner standen unter großem Zwang. Sie mussten schließlich ihren Besitz loswerden und auswandern. Dann wird auch oft gesagt, man habe den weichenden jüdischen Besitzern in dieser Situation sogar etwas Gutes getan und einen für damalige Verhältnisse gerechten Preis bezahlt und dabei auf ein Drücken des Kaufpreises oder die Einschaltung der Partei oder gar der Gestapo bewusst verzichtet. Ich glaube, in 90 Prozent der Fälle oder mehr sind das Lügen. Einfache Lügen. Ausreden, die nach dem Krieg ja alle hatten. Darauf sollte man wenig geben.