Unterdosierte Krebsmedikamente: Über 3.700 betroffen
Renate Okrent ist vermutlich Opfer eines der größten Medizinskandale der vergangenen Jahre. Die 59-Jährige hatte Brustkrebs, vor zweieinhalb Jahren wurde ihr der bösartige Tumor entfernt. Danach erhielt sie eine Chemotherapie mit dem Wirkstoff Docetaxel, geliefert von der Alten Apotheke in Bottrop.
Seit Ende Juni lebt Okrent mit der Angst, dass ihre Chemotherapie nicht genug Wirkstoff enthielt und bei der Nachbehandlung nicht alle Metastasen vernichtet wurden. Denn auf der Webseite der Stadt Bottrop hatte sie gelesen, dass Docetaxel zu den Wirkstoffen gehört, die der Bottroper Apotheker Peter S. jahrelang gestreckt hatte. "Ich wollte wissen, was ist da los, wie schlimm ist das. In welcher Form bin ich betroffen? Muss ich mir einen Kopf machen?", sagt Okrent.
Sechs Bundesländer betroffen
Von ihrem Arzt ist Okrent enttäuscht. Der hatte sie nicht informiert, obwohl ihn die Behörden frühzeitig über den Verdacht unterrichtet hatten. "Ich bin in keinster Weise informiert worden. Von niemanden. Weder von der Fachärztin, vom Krankenhaus noch irgendwas."
Wie Renate Okrent erging es vermutlich tausenden von Krebspatienten. Laut den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft in Essen sind bundesweit von rund 3.700 Patienten betroffen. 37 Arztpraxen und Kliniken seien demnach in den vergangenen fünf Jahren von dem Bottroper Apotheker Peter S. mit falsch dosierten Krebsmedikamenten beliefert worden. Die meisten davon in Nordrhein-Westfalen. Es gab allerdings auch Abnehmer in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Saarland, Sachsen und Niedersachsen.
Viele Patienten noch nicht informiert
Die Staatsanwaltschaft hat bislang aber nur den Abrechnungszeitraum der vergangenen fünf Jahre ausgewertet, der für eine Anklage wegen Abrechnungsbetrug relevant ist. Fälle aus der Zeit davor wären strafrechtlich verjährt. Nach Recherchen von Panorama und des gemeinnützigen Recherchezentrums Correctiv könnte die Zahl der mutmaßlich betroffenen Patienten weit größer sein.
Seit 2005 hat jedoch der Apotheker mehr als 7.300 Menschen mit den 49 Wirkstoffen beliefert, die sich derzeit auf der Liste der manipulierten Wirkstoffe des Bottroper Gesundheitsamtes finden.
NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) zeigte sich erschüttert, als er im Interview mit Panorama erfuhr, dass viele Patienten nicht unterrichtet wurden - die Dimensionen des Falles seien nicht bekannt gewesen. "Wir werden uns jetzt sofort darum kümmern, dass wir an die Adressen dieser Menschen kommen, und dann werden sie selbstverständlich informiert", sagte Laumann. "Wenn die Behörden die Ärzte und Krankenhäuser, die die Medikamente verabreichten, informiert haben, dann ist es auch deren Aufgabe, ihre Patientinnen und Patienten zu informieren. Ich finde, das ist für einen Behandler schlicht die Pflicht, dieses zu tun." Einige betroffene Ärzte erklärten gegenüber Panorama, sie seien selbst nicht ausreichend informiert worden. Außerdem gehe man nicht proaktiv auf möglicherweise betroffene Patienten zu, um sie nicht zu verunsichert. Wenn ein Patient nachfrage, werde er selbstverständlich informiert.
Entsetzt über Informationspolitik der Behörden
Der Bottroper Apotheker Peter S. war im November vergangenen Jahres festgenommen worden. Er selbst schweigt bislang zu den Vorwürfen.
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Apotheker vor, über Jahre Chemotherapien und Antikörper-Infusionen für Krebspatienten zu niedrig dosiert und sogar Therapiebeutel gänzlich ohne Wirkstoff ausgeliefert zu haben. Dadurch haben tausende Krebspatienten vermutlich wirkungslose Medikamente bekommen und sind so zu Schaden gekommen.
Ausgelöst hatte die Ermittlungen Martin Porwoll, damals kaufmännische Leiter der Apotheke. Er hatte die eingekauften Mengen der Wirkstoffe mit den Mengenangaben verglichen, die letztlich an die Patienten ausgeliefert wurden. Dabei hatte Porwoll festgestellt, dass bei einigen Medikamenten nur ein Fünftel des verordneten Wirkstoffs eingekauft wurde, den die Patienten eigentlich hätten bekommen sollen. Offenbar wurden die Medikamente "gestreckt", um so den Profit zu steigern.
Über die Informationspolitik der Behörden ist Porwoll entsetzt. "Da habe ich mir sicherlich mehr vorgestellt", sagt er. "Ich habe das Ganze natürlich gemacht, um Patienten zu helfen. Und nun höre ich, dass es noch immer Betroffene gibt, die nicht wissen, dass sie betroffen sind."