Tierschutz-Bilanz 2017: Mehr versprochen als gehalten
Im Februar hatte die Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG) überraschend erklärt, die Agrarbranche befinde sich in einer "Akzeptanzkrise", Landwirte seien herausgefordert, "Nutztiere tiergerechter" zu halten. "Wir sind selbstkritisch", rief DLG-Präsident Carl-Albrecht Bartmer der Gesellschaft zu.
Bartmers Rede signalisierte eine neue Offenheit, über geforderte Veränderungen auf den Höfen zu diskutieren. Was ist daraus geworden? Wie hat sich die deutsche Tierhaltung 2017 entwickelt?
Foodwatch: "Enormes Ausmaß" von vermeidbaren Leiden bei Nutztieren
Zumindest die Bilanz der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch fällt ernüchternd aus. Ihr Veterinär Matthias Wolfschmidt spricht von einem "enormen Ausmaß von vermeidbaren Erkrankungen, Schmerzen und Leiden der Nutztiere", das von Politikern und Agrarwissenschaftlern weiter ignoriert, nicht als systembedingtes Problem begriffen oder gar geleugnet werde.
Demnach wurden auch in diesem Jahr grundlegende Probleme in deutschen Ställen nicht gelöst. Foodwatch verweist unter anderem auf aktuelle Daten des Schlachtunternehmens Vion. Dort wurden bei einer Untersuchung Mitte 2017 bei fast 40 Prozent der Schweine krankhafte Veränderungen an inneren Organen und Gelenken festgestellt.
Hochschulstudie: Verstöße gegen Tierschutzgesetz
Alarmierende Befunde hatte kürzlich auch eine Studie der Tierärztlichen Hochschule Hannover ergeben. Wissenschaftler hatten in Tierkörperbeseitungsanstalten in sechs Bundesländern Kadaver von Schweinen untersucht, die bereits vor der Schlachtung verendet waren.
Mehr als zehn Prozent der begutachteten Mast- und Zuchtschweine wiesen Erkrankungen auf, die auf einen Verstoß gegen das Tierschutzgesetz schließen lassen, also auf einen Straftatbestand. Außerdem ergaben die Forschungen, dass bei etwa zwanzig Prozent der angelieferten Schweine eine Nottötung unumgänglich gewesen wäre.
Die Interessensgemeinschaft Deutscher Schweinehalter (ISN) erklärte daraufhin, hier gebe es nichts zu beschönigen. Geschäftsführer Torsten Staack forderte, Landwirte und ihre Hoftierärzte seien in der Pflicht, Defizite zu beseitigen.
Berliner Senat: Verstößt gängige Schweinehaltung gegen Verfassung?
Unter anderem wegen solch massiver Probleme beschloss der Berliner Senat im September, die Vorschriften zur Schweinehaltung durch das Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen. Eine Normenkontrollklage soll klären, ob die gängige Haltung gegen das Tierschutzgesetz und die Verfassung verstoße.
Verbandsklage gegen "Zustände in Putenmast"
Kurz darauf reichte im November die Albert-Schweitzer-Stiftung in Baden-Württemberg eine Verbandsklage gegen die "gängigen Zustände in der Putenmast" ein. Die Tierschutzorganisation kritisiert damit unter anderem die "Überzüchtung" und die Haltung von "10.000 Tieren und mehr auf engstem Raum in verdreckten Hallen". Die Bundestierärztekammer hatte zuvor bereits kritisiert, dass rechtsverbindliche Vorgaben für die Putenhaltung fehlten.
Der Vorsitzende des Verbandes der Deutscher Putenerzeuger, Thomas Storck, wies die Kritik zurück. Die Putenhaltung in Deutschland sei tiergerecht und stehe im Einklang mit dem Tierschutzgesetz. Die Putenhalter hätten mit ihrer freiwilligen Selbstverpflichtung das Tierwohl nachweislich verbessert. Putenhalterchef Storck hatte Ende 2016 gegenüber Panorama Tierschutzprobleme im eigenen Betrieb eingeräumt.
Auch die Milchviehhaltung stand 2017 in der Kritik. Die Tierschutzorganisation ProVieh zum Beispiel bemängelt, dass nur noch etwa vierzig Prozent der deutschen Kühe auf der Weide grasen. ProVieh fordert zudem, endlich auch die Haltung von Milchrindern gesetzlich zu regeln und ausnahmslos auf die Anbindehaltung im Stall zu verzichten.
Tierschutzbund: Haltung werde Tierbedürfnissen nicht gerecht
Der Deutsche Tierschutzbund hält die Situation in Ställen hierzulande grundsätzlich für mangelhaft, insbesondere die konventionelle Haltung werde den Bedürfnissen der Tiere nicht gerecht. Die Tiere hätten zu wenig Platz und kaum Auslauf, so die Tierschutzorganisation, außerdem führe das Zuchtziel Hochleistung zu Überlastung und damit zu Krankheiten und Verletzungen.
Ähnlich sieht das der Grünen-Agrarpolitiker Friedrich Ostendorff: Die meisten Tiere hätten keine Möglichkeit zu artgerechter Beschäftigung und fristeten ein Leben auf strohlosen Betonböden in geschlossenen Ställen im Dämmerlicht.
Der Bundestagsabgeordnete gibt allerdings auch zu bedenken, dass Landwirte eben auch weniger verdienen würden, wenn sie den Tieren zum Beispiel mehr Platz böten. Außerdem müsste man das Baurecht ändern, damit neue Außenklimaställe auch genehmigt würden, so Ostendorff.
Bauernverband: Tierschutz-Verbesserung durch Initiative Tierwohl
Der Deutsche Bauernverband (DBV) verweist dagegen auf "Erfolge" in der Tierhaltung. Zu den Leistungen gehöre auch eine "Verbesserung des Tierschutzes, unter anderem durch die Initiative Tierwohl". Die Initiative des Lebensmittelhandels ermöglicht einem Teil der Schweine- und Geflügelhalter durch eine Aufwandsentschädigung, ein wenig mehr für Tierwohl in ihren Ställen zu investieren.
Zu den Anforderungen ab 2018 gehörten Stallklima- und Tränkewasserchecks sowie zusätzliches Beschäftigungsmaterial im Stall, so der Sprecher der Initiative, außerdem müssten die teilnehmenden Landwirte ihren Tieren mehr Platz bieten. Ein Schwein bekommt demnach zehn Prozent mehr Platz als gesetzlich vorgeschrieben. Das entspricht gegen Ende der Mast bei einem Gewicht von 50 bis 110 Kilogramm 0,83 statt 0,75 Quadratmeter pro Tier.
Foodwatch zu Initiative: "Placebo-Maßnahmen"
Nach Angaben der Initiative Tierwohl sind inzwischen für die kommende Periode 2018 bis 2020 mehr als ein Fünftel aller Mastschweine in Deutschland integriert. Der Bauernverband lobt, kein anderes Programm habe solche Marktanteile. Kritikern gehen die Tierwohl-Kriterien allerdings nicht weit genug. Foodwatch spricht gar von "Placebo-Maßnahmen" und einem "Täuschungsmanöver des Lebensmittelhandels".
Interne Bauerninfo: "Gesetzlichen Verschärfungen" vorbeugen
Und ein Informationsblatt des Bauernverbandes "exklusiv für Mitglieder", das Panorama vorliegt, offenbarte zu Gründungszeiten noch ein anderes Ziel: "Eine von der Wirtschaft gut durchdachte und aktiv vorangebrachte Initiative Tierwohl mit hoher Teilnehmerzahl ist der beste Garant, gesetzlichen Verschärfungen vorzubeugen."
Der Bauernverband erklärt dazu, das Zitat treffe nicht den Kern des Anliegens. Offizielle Erklärungen seien ja auch damals schon auf eine Weiterentwicklung der Tierhaltungsbedingungen ausgerichtet gewesen. Und die Initiative Tierwohl schreibt, die Beweggründe einzelner Beteiligter könne man nicht kommentieren, aber "das oberste Ziel war und ist klar", das Tierwohl in möglichst vielen Betrieben nach und nach zu erhöhen.
Bundeslandwirtschaftsministerium setzt auf freiwillige Initiativen
Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) setzt tatsächlich auf das sogenannte "Leitprinzip freiwillige Verbindlichkeit" und damit auf die "Eigeninitiative der Wirtschaft", schreibt sein Ministerium Panorama. Initiativen und Positionspapiere sollen anstelle von Gesetzen Tierschutzverbesserungen bringen - zum Beispiel beim Verzicht auf das Schnabelkürzen in der Legehennenhaltung, oder zur Vermeidung, männliche Küken nach der Geburt zu töten, weil sie keine Eier legen.
Eine der wenigen Ausnahmen war das Verbot vom September, Kühe im letzten Drittel ihrer Trächtigkeit zu schlachten. Darüber hinaus diskutieren Bund und Länder derzeit, ob Sauen in Zukunft weniger Zeit in engen Gitterkäfigen - sogenannten Kastenständen - verbringen sollten.
Die langjährige Forderung der Bundestierärztekammer (BTK), die Tiergesundheit endlich systematisch und zentral zu erfassen, setzte Landwirtschaftsminister Schmidt auch 2017 nicht um. Neben dem bereits bestehenden Antibiotika-Monitoring sollte an Schlachthöfen der Zustand von Organen und Gelenken einheitlich und vergleichbar dokumentiert werden, so Tierarzt Matthias Link, Leiter der BTK-Arbeitsgruppe Bestandsbetreuung. In einer entsprechenden Tiergesundheitsdatenbank sollte auch festgehalten werden, wie viele Tiere auf den einzelnen Höfen verenden, sagt Link. Solch eine zentrale Dokumentation könnte für nötige Transparenz sorgen und damit wichtiger Ansporn für Verbesserungen der Tierhaltung sein.