Steuerskandal Cum-Ex: Abhaken, weitermachen
Haken dran und abgelegt - es geht ja bloß um 31,8 Milliarden Euro. Man mag es nicht glauben, aber genauso gehen die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen im Bundestag mit dem größten Steuerraub in der Geschichte der Bundesrepublik um. Da haben Banken, Börsenmakler und Anwälte den Staat über ein Vierteljahrhundert hinweg um unfassbare Summen an Steuergeldern gebracht. Doch in der Regierung, in deren Reihen jene sitzen, die den Skandal schon früher hätten unterbinden können, sieht man keinen Anlass, Konsequenzen zu ziehen.
An diesem Freitag legt der sogenannte Cum-Ex-Untersuchungsausschuss dem Bundestag seinen Abschlussbericht vor. Was darin steht, haben die verschiedenen Parteien in den vergangenen Tagen schon veröffentlicht. SPD, CDU und CSU sprechen von einem Fall von Steuerhinterziehung, von Geschäften, die immer schon rechtswidrig gewesen seien. Es gebe deshalb keinen Grund, politisch zu reagieren. Grüne und Linke hingegen halten den Fall für ein Versagen der Finanzverwaltung, insbesondere im Bundesfinanzministerium und in der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin). Sie fordern deshalb, dass sich diese Behörden reformieren.
Der Bundestag wird beides zur Kenntnis nehmen und den Bericht zu den Akten legen. So bleibt letztlich unbeantwortet, warum Politik und Behörden dem Treiben der Steuerbetrüger über 25 Jahre lang keinen Einhalt gebieten konnten. Und ob man sicher sein kann, dass so etwas nicht wieder passiert. Die Sache ist nämlich die: Man kann sich nicht sicher sein.
Dem Staat sind mindestens mindestens 24,6 Milliarden Euro entgangen
Cum-Ex-Geschäfte laufen darauf hinaus, dass eine Steuer einmal abgeführt und mehrfach vom Fiskus zurückgefordert wird. Zwischen 2005 und 2012 entstand nach Berechnungen des Mannheimer Finanzwissenschaftlers Christoph Spengel durch Cum-Ex-Tricks ein Schaden von mindestens 7,2 Milliarden Euro. Damit verwandt sind sogenannte Cum-Cum-Geschäfte. Hier hilft eine inländische Bank einem ausländischen Investor dabei, eine Steuerrückzahlung zu ergattern, auf die dieser keinen Anspruch hat. Der Gewinn wird aufgeteilt. Durch solche Cum-Cum-Deals sind dem Staat seit 2001 mindestens 24,6 Milliarden Euro entgangen, hat Spengel berechnet.
Politisches Desinteresse und Zuständigkeitsgerangel
Es ist richtig: Cum-Ex ist zunächst ein Kriminalfall. Doch reicht es aus, die Aufarbeitung des Skandals Steuerfahndern, Staatsanwälten und Gerichten zu überlassen? Nein. Denn dass die Steuerbetrüger mit ihrer Beute davonkamen, liegt nicht zuletzt an einer gefährlichen Mischung aus politischem Desinteresse, Blauäugigkeit im Finanzministerium und dogmatischer Abgrenzung einzelner Unterbehörden in ihren Zuständigkeiten.
Vier Finanzminister hätten das Spiel beenden können. Als der hessische Staatskommissar August Schäfer 1992 das erste Mal vor Cum-Ex warnte, regierte im Bund noch Helmut Kohl, Theo Waigel war sein Finanzminister. Sieben Jahre später übernahm Hans Eichel das Amt. Er war zuvor als hessischer Ministerpräsident der oberste Chef Schäfers. Der sagt, Eichel sei damals über seinen geheimen Warnbericht informiert worden. Doch Eichel will von den üblen Steuertricks nie etwas erfahren haben.
Problem nie konsequent bekämpft
Ab 2007, da führte Peer Steinbrück das Finanzressort, gingen weitere Warnungen von Fachleuten und Whistleblowern im Ministerium ein. Wiederum wurde der Steuerraub nicht abgestellt. Schluss mit Cum-Ex war erst 2012, die Cum-Cum-Deals wurden erst 2016 unterbunden. Mehr als 20 Jahre lang hatte sich die politische Ebene im Finanzministerium so wenig für das Problem interessiert, dass es nie konsequent bekämpft wurde.
Stattdessen ließen sich die Ministerialen allzu blauäugig auf Hilfsangebote des Bankenverbands ein. Ausgerechnet von einem Lobbyverband der Banken übernahmen sie Vorschläge, wie ein Geschäft zu beenden sei, mit dem dieselben Banken Milliarden kassieren konnten. Unkritisch wurde der "steuergesetzliche Formulierungsvorschlag" des Verbands akzeptiert und in Gesetzesform gegossen. Die neue Regel enthielt jedoch - wen wundert es - so große Lücken, dass die Cum-Ex-Party danach erst richtig groß wurde. Wohl 40 deutsche Geldinstitute stiegen in das Geschäft ein. Eine Landesbank begann ihre Cum-Ex-Geschäfte sogar im selben Jahr, in dem sie wegen der Finanzkrise staatliche Hilfe beantragte.
"Außergewöhnlich komplexe" Steuertricks
Schließlich haben sich die Steuerabteilung und die Finanzmarktaufsicht im Ministerium sowie die Bafin lange Zeit nicht untereinander abgestimmt. Glaubt man dem Grünen-Vertreter im Untersuchungsausschuss Gerhard Schick, so hatte die Bafin schon 2007 alle Informationen zusammen, die man gebraucht hätte, um den Steuerbetrug zu erkennen. Doch dieses Wissen wurde nicht weitergegeben. Offensichtlich hat dort niemand das Problem als solches wahrgenommen. Heute versucht die Finanzverwaltung, einen Teil des Geldes zurückzubekommen. Doch wer die Bafin danach fragt, wie viel Geld die Banken dafür insgesamt zurückgestellt haben, erhält keine Antwort.
Ja, die Steuertricks waren "außergewöhnlich komplex", wie Finanzminister Wolfgang Schäuble im Untersuchungsausschuss sagte. Aber es stimmt nicht, dass es nicht früher möglich gewesen wäre, dieses Problem zu lösen. Vorschläge gab es, Fachleute beispielsweise aus der hessischen Finanzverwaltung hatten sie mehrfach vorgelegt. Sie wurden nicht ernst genommen.
Viele Fragen bleiben unbeantwortet
Auch heute noch scheint das Ministerium den Skandal für nicht allzu bedeutend zu halten. Wenn man dort nachfragt, ob es nicht ein besseres Sicherheitssystem zum Schutz des Steuerzahlers brauche, löst das Verwunderung aus. Nicht nötig, heißt es dann, das Problem sei schließlich abgestellt worden. Stimmt. Nach 25 Jahren und 31,8 Milliarden Euro Verlust.
Doch wie kann der Staat frühzeitig erkennen, wenn er betrogen wird? Wie organisiert man Zuständigkeiten so, dass wichtige Hinweise auf Gaunereien erkannt werden und Folgen zeitigen? Wie erfährt das Finanzministerium, ob seine Maßnahmen gegen die Steuertricks dann auch wirken? Wie müssten dafür Bundes- und Landessteuerverwaltungen zusammenarbeiten, wie ihre Steuerfahnder ausgestattet werden? Welche Möglichkeiten gibt es, die Komplexität von Börsengeschäften einzuschränken, sodass sie kontrollierbar bleiben? Und was sagt man dem Bürger, der sich wundert, warum er auf seine Steuererklärung Post vom Finanzamt erhält, weil Belege zum Zahnersatz fehlen – Finanzmarktakteure aber damit durchkommen, wenn sie doppelt bis zehnfach falsche Steuerbescheinigungen einreichen?
Antworten auf diese Fragen zu suchen, ist mühsam. Aber es ist unabdingbar, will man das Vertrauen der Bürger in den Staat erhalten. Die Koalition jedoch macht es sich einfach und legt den Fall zu den Akten.