Irrlichternder Innenminister: Wann greift Merkel durch?
Ist die Regierung in der Flüchtlingskrise handlungsfähig? Befasst sie sich mit den wesentlichen Themen? Wie viele Scheindebatten kann sich die Bundesregierung in der Krise leisten? Das sind akute Fragen, die nach den irrlichternden Auftritten von Bundesinnenminister Thomas de Maizière am Freitag ganz mächtig bohren. Erst sagt de Maizière, syrische Flüchtlinge sollten in Deutschland überwiegend nur noch "subsidiären Schutz" erhalten und damit bis auf weiteres kein Recht auf Nachzug von Ehepartnern und minderjährigen Kindern haben.
Wenige Stunden später rudert er zurück und sagt, die bisherige Praxis, wonach syrische Flüchtlinge aller meistens den Flüchtlingsstatus nach der Genfer Konvention erhalten, bleibe bestehen. Von der CSU kommt Beifall für den Innenminister. Von der SPD hagelt es beißende Kritik in der Tonlage: "Es reicht." Was tut die Kanzlerin? Bislang schweigt sie. Regierungssprecher Steffen Seibert schritt Freitagabend ein und betonte, dass sich an der bisherigen Praxis nichts ändere.
Muss de Maizière gehen?
Aber kann es bei einer solch lapidaren "Korrektur" bleiben? Kann sich die Bundeskanzlerin einen ihrer eigenen Partei angehörenden Innenminister leisten, der ihre Politik ständig torpediert? Eine "Panorama"-Anfrage ans Kanzleramt, ob es nun auch ihr "reiche" und sie daher mit einem Rücktritt ihres einstigen Intimus rechne, wird mit "Nein" beantwortet. Beschnitten hat Merkel die Macht de Maizières schon, indem sie ihren Kanzleramtschef Altmaier zum obersten Manager der Flüchtlingskrise ernannte. Aber mundtot ist der Innenminister dadurch nicht. Einen Tag nach dem feierlichen Schluss des "Koalitionsfriedens" zwischen Merkel, Seehofer und Gabriel reißt de Maizière die Gräben nun weiter auf als je zuvor. Es ist keine Kleinigkeit. Die Koalition hatte beschlossen, Flüchtlinge, denen "subsidiärer Schutz" zuerkannt wurde, für mindestens zwei Jahre die Familienzusammenführung in Deutschland zu verbieten. Das hätte eine überschaubare Zahl von Schutzsuchenden betroffen.
Würde de Maizières Ankündigung, Syrer, welche die größte Flüchtlingsgruppe bilden, auf "subsidiären Schutz" herabzustufen, wahr, könnten Tausende Flüchtlinge ihre Ehepartner und minderjährigen Kinder nicht auf legalem Weg nachholen. Anders formuliert: Sie könnten es doch, müssten ihr Recht allerdings vor den Verwaltungsgerichten erkämpfen. Dass man ihnen das Recht auf Familienzusammenführung in einem Land, das den Schutz von Ehe und Familie ins Grundgesetz geschrieben hat, nicht einfach verweigern kann, ist unter Juristen und Ausländerrechtsexperten eine Binsenweisheit. Hätte de Maizière mit seinem Plan voranschreiten dürfen, käme er den Staat womöglich teuer zu stehen. Denn der Staat müsste voraussichtlich die Kosten der Gerichtsverfahren tragen, in denen syrische Flüchtlinge den Nachzug engster Angehöriger erfolgreich erstreiten.
Phantome und Scheindebatten
Nachdem die Bundesregierung sich einen Monat lang mit dem Phantom der "Transitzonen" beschäftigt hat, stößt de Maizière nun eine weitere Scheindebatte an. Praktisch ist der Familiennachzug von Flüchtlingen nämlich ausgesetzt. Vom Antrag bis zur tatsächlichen Wiedervereinigung einer Familie vergeht schon jetzt mehr als ein Jahr. Weil die deutschen Botschaften in der Türkei, im Libanon und im Irak unterbesetzt und weil die Verfahren kompliziert sind, wird sich die Bearbeitungsdauer sowieso weiter in die Länge ziehen.
Was aber ist mit Unterbringung und Integration der Flüchtlinge? Was ist mit der Verkürzung der Asylverfahren? Wie weit ist die Bundesregierung mit ihrer Forderung durchgedrungen, die Lasten auf alle EU-Staaten zu verteilen? Wie steht es mit der europäisch-türkischen Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise, und was hat die Bundesregierung für die Beendigung der Kriege von Syrien bis Afghanistan erreicht?
Mangels greifbarer Erfolge scheint die Versuchung groß, Handlungsfähigkeit vorzutäuschen. Der Innenminister tut gern so, als könne er mit "Maßnahmen" wie der Herabstufung des Schutzstatus von Syrern die Zahl der Flüchtlinge verringern. Bereitet der Innenminister womöglich seinen eigenen Abgang vor? Er hat "Abwehrbereitschaft" demonstriert und musste seine Pläne prompt zurücknehmen. Er wird sagen können: "Ich habe alles versucht, aber die Kanzlerin hat mich nicht gelassen." Sein Sprecher beantwortete eine Panorama-Anfrage nach Rücktrittsabsichten des Bundesinnenministers mit "Nein".