Aufstieg auf dem Rücken der anderen - die historischen Vorbilder der AfD
Wir fangen jetzt nicht wieder von vorn an, im Jahre 1879. Die Geschichte wiederholt sich nicht. Das ist die gute Nachricht.
Man muss allerdings dieser Tage von den Deutschen verlangen, sich zu erinnern. Die AfD, die "Alternative für Deutschland" will die Anti-Islam-Politik zum Kern ihres Parteiprogramms erheben. Die aufstrebende Partei definiert eine gesellschaftliche Gruppe als "Fremdkörper", der Deutschland bedrohe. Auf den Flügeln des Hasses, den sie so erzeugt, will sich die AfD in neue politische Höhen tragen lassen.
Eine solche Strömung könne sich "ihrem Wesen nach nur auf die niedrigsten Triebe und Instinkte einer rückständigen Gesellschaft stützen", sagte der Sozialdemokrat August Bebel vor mehr als 120 Jahren. Bebel meinte den Antisemitismus. Dieser spiegele die "moralische Verlumpung der ihm anhängenden Schichten" wider.
Antisemitismus als politisches Programm
Bebel reagierte auf ein neues politisches Credo in Deutschland. Parteien und Vereine waren seit 1879 aus dem Boden gesprossen, die den "Antisemitismus", eine damals völlig neue Wortschöpfung, zu ihrem politischen Programm erkoren hatten. "Die Antisemitische Volkspartei" warnte vor "gemeingefährlicher Einwanderung" von Juden "aus dem Osten". Der "Osten" war damals Russland. Die "Deutschsoziale Antisemitische Partei" redete Bauern, Arbeitern und Kleinbürgern ein, es werde ihnen besser gehen, wenn die Rechte der Juden beschränkt würden.
Der Publizist und Agitator Wilhelm Marr orakelte düster von der "Unterwanderung Deutschlands durch die Juden“ und hatte schnell Erfolg beim Publikum. Sein Pamphlet "Der Sieg des Judentums über das Germanentum", das Marr 1879 veröffentlichte, fand reißenden Absatz. Innerhalb weniger Jahre wurde diese deutsche Urschrift des modernen Rassenhasses auf die Juden zwölfmal aufgelegt. Deutschland müsse vor der "vollständigen Verjudung” gerettet werden, meinte Marr. Man müsse an die "Nachkommen der Urbewohner" denken, die ein "erträgliches Leben" verdient hätten. Deshalb müsse man dem "organisierten Judentum ein organisiertes Deutschtum entgegenstellen".
Lediglich die Schlagworte haben sich geändert
"Nie werden wir in allgemeiner Menschenverbrüderung künftig Botokuden und Hottentotten, Australneger und Juden liebend in unsere Arme schließen", hieß es in der Erklärung eines antisemitischen Vereins aus Hamburg. Die Schlagwörter haben sich geändert, die begriffliche Substanz nicht. Man sprach nicht vom "Ende der naiven Willkommenskultur", sondern von der Ausrottung des "internationalen Gedankens".
Wenn Marr agitierte und der angesehene Historiker Heinrich von Treitschke feststellte: "Die Juden sind unser Unglück", maßten sie sich einen aufklärerischen Gestus an. Die Antisemiten, wie sie sich stolz nannten, hatten den Anspruch, die Deutschen über eine drohende Gefahr "aufzuklären". Sie behaupteten, im Gegensatz zu den "abgelebten Parteien" der Konservativen, Liberalen und Sozialisten diese Gefahr "erkannt" zu haben.
Suche nach bedenklichen Stellen im Talmud
Die Antisemiten gaben Studien in Auftrag, den Talmud auf bedenkliche Stellen hin zu untersuchen, die belegen sollten, dass jüdisches Gedankengut mit deutscher Kultur nicht vereinbar sei. "Handbücher des Judentums" wurden erarbeitet, in denen die Antisemiten "die Gefahr", die die Juden darstellen, aus den historischen Quellen ableiteten. Aus der "jahrtausendealten Geschichte" des Judentums schlossen sie, dass "sein Aufgehen in den Völkern unmöglich" sei. "Aufgehen" heißt heute "Integration".
Die antisemitischen Parteien forderten, die Juden müssten ihre religiösen Riten aufgeben. Ansonsten müsste ihnen die in Folge der Französischen Revolution gewährte bürgerliche Gleichberechtigung wieder entzogen werden.
Vom 10. bis 12. September 1882 luden die deutschen Antisemiten europäische Gäste zum "Ersten internationalen antijüdischen Kongress" nach Dresden ein. Es kamen Delegationen aus Ungarn, Österreich und Russland. In der Abschlusserklärung hieß es: "Die Übermacht des Judentums zu brechen, ist unabweisliche Aufgabe der christlichen Welt."
Der Aufstieg der "Ein-Thema-Partei"
Der Pfad, den Beatrix von Storch, Alexander Gauland und Marc Jongen betreten haben, ist in Deutschland schon einmal beschritten worden. Das sollten die Wähler bedenken, wenn von Storch von der "Unvereinbarkeit des Islam mit dem Grundgesetz" faselt und Gauland medienwirksam philosophiert, "der Islam ist intellektuell immer mit der Übernahme des Staates verbunden". Es ist der Versuch, auf dem Rücken eines Hassobjekts politisch groß zu werden.
Die historischen Vorbilder der AfD hatten Ende des 19. Jahrhunderts mäßigen parteipolitischen Erfolg. Sie zogen zwar als Abgeordnete in den Berliner Reichstag und in Landesparlamente ein, blieben aber "Opposition". In Österreich schaffte es der Chef der "Christlichsozialen Partei", so nannten sich die Antisemiten dort, auf den Posten des Bürgermeisters von Wien. Karl Lueger regierte die Hauptstadt des Habsburgischen Reiches von 1897 bis 1910. Einmal an der Macht hielt sich Lueger mit konkreten Maßnahmen gegen Juden zurück. Sein Vermächtnis ist allerdings demonstriert zu haben, wie hoch man mit einer "Ein-Thema-Partei", die sich gegen den anderen richtet, kommen kann.
Wegbereiter des Führers
Das fiel auch einem von Luegers Bürgern in Wien auf. Adolf Hitler lebte dort am Ende von Luegers Regierungszeit in einem Männerasyl und versuchte sich als Künstler. In "Mein Kampf" analysiert Hitler später, dass Lueger sich die Empfänglichkeit des Volkes für antisemitische Gedanken geschickt zunutze gemacht habe. Auch die deutschen Antisemiten des späten 19. Jahrhunderts, von Wilhelm Marr über von Treitschke bis zum Hofprediger Adolf Stoecker, stiegen unter den Nationalsozialisten posthum in den Rang großartiger Wegbereiter des Führers auf.
Was in zwanzig Jahren sein wird, wissen wir nicht. Vielleicht ist der Spuk dann wieder vorbei. Aber in Deutschland hat niemand mehr das Privileg des unschuldigen Experimentierens. Wenn ein politischer Agitator fordert, "Minarette" müssten aus der Öffentlichkeit verschwinden, dann muss man damit rechnen, dass eines Tages Minarette brennen werden.
Ursprünglich erschienen bei Qantara.de